Aus dem Spanischen von Silke Kleemann und Inka Marter, Tropen 2022, 832 S., € 28,-
2019 ist dieser Roman der argentinischen Schriftstellerin Mariana Enriquez erschienen, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Die Autorin verwebt unterschiedliche Zeitebenen, Erzählperspektiven, Ereignisse und Charaktere. Manchmal sind Fäden klar zu erkennen, bei anderen braucht es länger, um die Muster zu verstehen. Im Mittelpunkt des Romans steht der Orden, eine Kongregation, die seit Jahrhunderten versucht Unsterblichkeit zu erlangen, und bei der Wahl ihrer Methoden nicht zimperlich ist. Weil Mariana Enriquez in Argentinien aufgewachsen ist, fallen sofort Referenzpunkte wie Marquez oder Borges ein. Ich selbst habe sehr viel an David Lynch gedacht, an die von ihm inspirierte erste Staffel von True Detectives und deren Motto: touch darkness and darkness touches you. Denn darum geht es in dem Buch, um eine Dunkelheit, die Unsterblichkeit verspricht, die immer wieder angerufen werden muss, die blutrünstig ist und Opfer braucht.
Das Buch beginnt 1981. Der damals 6-jährige Gaspard und sein Vater Juan fahren von Buenos Aires in den Norden des Landes. Sie besuchen die Familie der verstorbenen Ehefrau und Mutter, Rosario, einer der mächtigsten Familien Argentiniens, reich geworden durch Kolonialismus und Ausbeutung von Land und Menschen. Vor Ort angekommen begegnen sie Angehörigen des Ordens. Juan hat übersinnliche Kräfte und dient als Medium zwischen den Anhänger:innen des Ordens und einer übersinnlichen Macht. Die Rituale des Ordens sind grausam, sie zeugen von einer großen Menschenverachtung, einer schwer auszuhaltenden Distinktion zwischen Menschen, die als lebensunwert eingeschätzt werden und jenen, die sich das Recht nehmen Menschen zu quälen. Dabei profitiert der Orden von der Militärdiktatur. Spätestens hier wird der Roman zu einer Parabel.
Die Autorin überlässt viele Deutungen der jeweiligen Leser:in. So vermeidet sie es eine Identifikationsfigur aufzubauen und die meisten Personen sind eng mit dem Orden verflochten und korrumpierbar. Eine Ausnahme bildet Gaspard, der in Buenos Aires sein coming of age erlebt. Mariana Enriquez wechselt in ihren Erzählebenen zwischen Ich-Perspektive und auktorialer Erzählung. Es sind zwei Protagonistinnen für die die Autorin die Ich-Perspektive gewählt hat. Einmal Rosario: bei ihr wird das Mäandern zwischen gieriger Rücksichtslosigkeit einerseits sowie Skrupeln den Methoden des Ordens gegenüber anderseits erkennbar. Die andere ist eine Journalistin, die versucht die Verbrechen der Militärdiktatur aufzudecken, und scheitert. Es geht in diesem Roman um okkulte Praktiken, vor allem aber darum, wie Menschen auf der Suche nach Entgrenzung und entgrenzter Macht grausam andere Menschen in Dienst nehmen, opfern, quälen, töten. Es geht um Gier, und darum, was Menschen bereit sind zu tun, ihre Gier, sei es nach Erkenntnis oder eben Macht zu stillen. Mariana Enriquez stellt Fragen, die weit über den Inhalt des Buches hinausgehen, und leider von großer Aktualität sind. Sie beunruhigt. Sie bedrängt. Sie berührt. (Veronika Springmann)