S. Fischer 2023, 240 S., € 22,-
Paul ist „rübergemacht“. So nannte man in der DDR umgangssprachlich, was offiziell als Republikflucht bezeichnet wurde. Karin, seine 16jährige Freundin, wusste nichts von seinen Plänen, was ihr aber niemand recht glaubt, schon gar nicht die mehr oder weniger offen agierenden staatlichen Sicherheitsorgane. Ihre Familie, ihre Freundschaften – alles steht plötzlich auf dem Prüfstand. Charlotte Gneuß beschreibt einerseits sehr einfühlsam, wie Karin versucht, mit dem völlig unerwarteten Verlust ihrer ersten Liebe umzugehen. Andererseits lässt sie ihre junge Protagonistin schonungslos die Perfidie des Bespitzelungssystems in der DDR erleben. Die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder von Träumen und Erinnerungen durchdrungen. Dazu kommt, dass der Erzählstrom enorm verdichtet ist und voller Andeutungen, die Sätze, Seiten oder auch Kapitel später erklärt werden. Oftmals bleiben sie aber auch offen und in ihrer Auflösung unserer Vorstellungskraft als Lesende vorbehalten. So manchem losen Ende der Erzählstränge wäre ich gerne weiter gefolgt, doch dann hätte ich ein komplett anderes, vermutlich eben nicht so gutes Buch gelesen. (Jana Kühn) Leseprobe