Hundertvierzig schmale Seiten, die es in sich haben, die das erzwungene Lebensgefühl wiedergeben, sich auf absolut gar nichts mehr verlassen zu können. Selbst eine harmlose Lesereise von A nach B entwickelt sich für die Protagonistin, die aus ihrem Land, das Krieg gegen ein Nachbarland führt, flüchten musste, zu einer Grenzerfahrung. Unterwegs verpasst sie ihren Zug, funktioniert ihr Telefon nicht. Sie strandet in einer Grenzstadt, ohne dass irgendjemand davon weiß. Was ihr erst ein Atemholen verschafft, sie einfach herumstreift und sich ein Hotelzimmer nimmt. Doch die Gedanken, die Erinnerungen, die Wut auf das „Untier“, die Scham lassen sie nicht los, selbst als sie einem Mann durch leere Vorstadtstraßen regelrecht nachstellt. Das, was zu ihrem Exil führte, ist zu übermächtig, drängt immer wieder an die Oberfläche, selbst als sie als zersägte Jungfrau in einem heruntergekommenem Wanderzirkus landet. Doch alles andere als ohnmächtig setzt Maria Stepanova ihre Sprache, ihre Bilder, ihre Gefühle, ihre Phantasie so klug, stark und poetisch ein, dass es tief berührt und gleichzeitig überzeugend demonstriert, dass sie sich ihre Sprache nicht wegnehmen lässt. Und Olga Radetzkaja hat den Roman in ein verdichtetes knappes Deutsch übertragen, das trotzdem die vielen Anspielungen und doppelten Böden aufschimmern lässt. (Stefanie Hetze)
Eva Rottman: Fucking fucking schön
Jacoby & Stuart 2024, 176 Seiten, 16 Euro
Fucking Fucking schön der Autorin Eva Rottmann umkreist das erste Mal, oder besser die vielen unterschiedlichen ersten Male des Coming of Age aus der Sicht von 12 Teenagern. Aus Gesprächen mit Schüler*innen hat die Autorin Themen, Fragen und Bilder ausfindig gemacht, die sie in zehn erzählten Kapiteln verdichtet. Jeder Text umkreist dabei sehr assoziativ und doch immer greifbar konkret ein Thema – Queerness, Lust oder Netzpornos zum Beispiel, aber auch Flüchtigeres wie atemloses Verliebtsein, Zweifel, Scham oder Reue. Die einzelnen Episoden stehen für sich, sind aber durch immer wieder aufscheinende, dünne rote Fäden miteinander verbunden. Rottmann ist auch Theaterautorin was man den Texten anmerkt – lebendig, sprachintensiv und mit dem Ohr ganz nah dran an der Zielgruppe, szenisch erzählt und aufgebaut. Tatsächlich kann man das Oeuvre Rottmanns als einen Organismus lesen, in dem Figuren und Orte ganz beiläufig immer wieder auftauchen. Deshalb Achtung – Spoileralarm! Wer die Vorgängergeschichten von Eva Rottman – Mats und Milad und Kurz vor dem Rand, übrigens gerade mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet – noch nicht kennt, liest einige Details nicht linear. Das macht aber nichts, denn es ist nahezu egal aus welcher Richtung man die Welt Eva Rottmanns betritt: es macht Fucking fucking Spaß. (Kerstin Follenius)
Anke Kuhl & Moni Port: MUKKEKUKKE
Reprodukt, 152 Seiten, 20 Euro, ab 5
Mit Musik entstehen Bilder im Kopf. Das dachten sich wohl auch Anke Kuhl und Moni Port und initiierten ein Gemeinschaftsprojekt, dessen Namensliste der teilnehmenden Zeichner*innen sich wie das Who’s Who der hiesigen Kinderbuchwelt liest. Rotraut Susanne Berner, Nadia Budde, Axel Scheffler, Philipp Waechter und noch einige mehr haben in ihrem ureigenen Strich Musikstücke u.a. von den Ärzten, Ludwig van Beethoven und Max Rabe illustriert. Es gibt also wahrlich Klassik, Pop et cetera. Und bunt gemischt sind in den zahlreichen Genres auch die Stimmungen: da wird fröhlich gerangelt, melancholisch das Selbst begrübelt und gemütlich der Abend begrüßt. Das macht Kindern alleine Spaß ist, aber auch für die ganze Familie toll. Auf allen gängigen Streamingportalen findet sich die komplette Playlist zum Buch, und so ist Mukkekukke, wie der geniale Titel es schon sagt, ein echtes Bilder-Hör-Buch. (Jana Kühn)
Iida Turpeinen: Das Wesen des Lebens
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann, S. Fischer Verlag, 2024, 320 Seiten, 24 Euro
„Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald die großen Arten.“ Davon erzählt Iida Turpeinen in ihrem Debütroman – mitreißend, berührend und klug geht es in vier Zeitkapiteln, die sich über drei Jahrhunderte erstrecken, um Wissenschaftsgeschichte.
1741 entdeckt der Naturforscher Georg Wilhelm Steller die später nach ihm benannte Stellersche Seekuh. Er begleitet die Große Nordische Expedition von Vitus Behring, sie erleiden Schiffbruch und die Besatzung muss auf einer unbewohnten Insel überwintern. Hier sieht und beschreibt der Forscher das friedliebende, gesellige, spielfreudige, riesige und unschuldige Tier ein erstes Mal. Dreißig Jahre später ist die Stellersche Seekuh ausgestorben, ausgerottet von Pelzjägern.
In den weiteren Kapiteln wird von Constance Furuhjelm in Alaska erzählt, die – eher zufällig und against all odds – das Skelett einer Stellerschen Seekuh katalogisiert, von der fast symbiotischen Beziehung zwischen dem Zoologen Alexander von Nordmann und der Zeichnerin Hilda Olsen, die ihm die alternden Augen und Hände ersetzt und das erste Bild einer Stellerschen Seekuh anfertigt, und von vier Brüdern, die ihre Liebe zur Natur verbindet. Einer von ihnen wird später mit der Restaurierung eines Stellerschen Sehkuh Skeletts beauftragt.
Immer wieder geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Forscherdrang und Faszination, Ausbeutung und Ehrfurcht. Ein spannendes, wenngleich melancholisches Buch. Nach der Lektüre würde man so gerne eine Stellersche Seekuh mit ihrer Familie im Meer spielen sehen … (Katharina Bischoff)
Sonntag, 10. November
Lesung und Workshop für Kinder
Wir feiern weiterhin Italien als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und laden herzlich ein zu Kaya – Lesung und Workshop für Kinder mit dem deutsch-italienischen Doppel Heike Brandt und Giulia Orecchia.
Wann? Sonntag, 10. November um 11 Uhr
Wo? im Projektraum O45 // Oranienstraße 45
Freitag, 29. November
Lesung mit Donatella di Pietrantonio
Wir feiern weiterhin Italien als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und laden herzlich ein zur Lesung mit Donatella di Pietrantonio. Ihr Roman Die zerbrechliche Zeit wurde in 2024 mit der wichtigsten literarischen Auszeichnung Italiens, dem Premio Strega, geehrt. Gerade ist er quasi druckfrisch beim Münchner Kunstmann Verlag erschienen.
Wann? Freitag, 29. November um 20 Uhr
Wo? in der Dante
Freitag, 29. November
Wir feiern weiterhin Italien als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und laden herzlich ein zur Lesung mit Donatella di Pietrantonio. Ihr Roman Die zerbrechliche Zeit wurde in 2024 mit der wichtigsten literarischen Auszeichnung Italiens, dem Premio Strega, geehrt. Gerade ist er quasi druckfrisch beim Münchner Kunstmann Verlag erschienen.
Wann? Freitag, 29. November um 20 Uhr
Wo? in der Dante
Soli-Eintritt 8/10/12 Euro
Tickets sind vorab in der Dante erhältlich.
Die Veranstaltung findet in italienischer und deutscher Sprache statt. Es übersetzt Giulia Silvestri.
Donatella di Pietrantonio: Die zerbrechliche Zeit, übersetzt von Maja Pflug, Kunstmann, 224 Seiten, 22 Euro
Leichten Fußes war Amanda zum Studium nach Mailand aufgebrochen. Als sie wenige Monate später von dort zurückkehrt, scheint sie gebrochen. Lucia, ihre Mutter, ahnt und fürchtet eine Gewalterfahrung. Ihre Fragen erreichen die Tochter jedoch nicht. Stattdessen erinnert sich Lucia in aller Deutlichkeit an die brutalen Ereignisse, die sich vor dreißig Jahren in den Wäldern rund um den Zeltplatz nahe des Wolfszahn genannten Berges ereigneten. Di Pietrantonio verknüpft mit großem erzählerischem Geschick beide Geschehnisse, die einerseits den Alltag des Dorfes am Fuß des Berges bis heute prägen, andererseits ganz aktuell das Leben ihrer Protagonistinnen betreffen. Wie in ihren vorangegangenen Titeln, die ebenfalls alle von Maja Pflug übersetzt wurden, erzählt sie einmal mehr vom fragilen Konstrukt, das Familien in sich aneinander bindet, selbiges aber eben auch gar nicht tun muss. Ein atemlos zu lesender, vielschichtiger Familien- und quasi Kriminalroman aus den archaischen Abruzzen.
Unter der Schirmherrschaft des Italienischen Kulturinstitutes Berlin. Wir bedanken uns sehr herzlich beim Kunstmann Verlag für die Unterstützung.
Sonntag, 10. November
Wir feiern weiterhin Italien als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und laden herzlich ein zu Kaya – Lesung und Workshop für Kinder mit dem deutsch-italienischen Doppel Heike Brandt und Giulia Orecchia.
Wann? Sonntag, 10. November um 11 Uhr
Wo? im Projektraum O45 // Oranienstraße 45
Der Eintritt ist frei. Die Veranstaltung findet in italienischer und deutscher Sprache statt. Um Anmeldung wird gebeten: anmeldung@danteconnection.de
Heike Brandt, Giulia Orecchia (Illustr.): Kaya, Moritz Verlag, 121 Seiten, 18 Euro, ab 3
Kaya möchte einen Apfel aus dem Korb weit oben, rettet mit ihrer Oma Tinka eine Maus, will nicht die vielen Treppen laufen und knallt mit dem Kopf an eine Tür. So alltäglich wie abenteuerlich geht es in diesen neun beglückend schönen Vorlesegeschichten zu, was von Kayas Erwachsenen zuhause und in der Kita mit viel Zugewandheit, Geduld, Fantasie, vor allem immer auf Augenhöhe mit dem Kind begleitet wird. Mit dem stetig gleichen Einstieg „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ knüpft Heike Brandt geschickt an die Vorliebe vieler junger Kinder an, die eigenen Erlebniswelten wieder und wieder erzählt zu bekommen. Giulia Orecchia, eine Ikone der italienischen (Kinder)Buchillustration, ausgezeichnet u.a. mit dem Premio Andersen, hat für Kayas Geschichten farbenfroh lebendige Illustrationen beigesteuert, welche die altersgemäß kurz gehaltenen Texte wunderbar ergänzen. Unser jüngster Test-Leser liebte Kaya schon im ersten Durchlauf. Kaya hat alles, was ein zukünftiger Klassiker braucht!
Wir bedanken uns sehr herzlich beim Italienischen Kulturinstitut Berlin für die Unterstützung.
Francesca Melandri: Kalte Füße
Übersetzt von Esther Hansen, Verlag Klaus Wagenbach 2024, 279 Seiten, 24 Euro
Einen knapp 300 Seiten langen Brief hat Francesca Melandri an ihren schon lange verstorbenen Vater geschrieben und diesem Brief den Titel Kalte Füße gegeben. Darin setzt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte und Familienerzählung auseinander und verknüpft diese mit Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Erzählung. Vornehmlich geht es um Krieg: „Ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe“.
Der Vater hat im 2. Weltkrieg gekämpft, auf der „falschen Seite“, auf Seiten der italienischen Faschisten und war Teil der Ritirate di Russia, des verlustreichen Rückzugs aus Russland, der in Italien als Opfergeschichte erzählt wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird Melandri klar, dass „dein Russlandkrieg, ja größtenteils ein Ukrainekrieg war“. Diese Erkenntnis nimmt sie zum Anlass, genauer hinzuschauen. Schonungslos und ehrlich analysiert die Autorin sowohl den einen, familiengeschichtlichen, als auch den anderen, den gesellschaftspolitischen, Erzählstrang. Sie schreibt über russischen Kolonialismus und die Ignoranz des friedensverwöhnten Westeuropas, über unsere Mitschuld am Versuch der Auslöschung z.B. der ukrainischen Identität durch genau diese Ignoranz. Sie schreibt über das Privileg, sich als Pazifist*in zu sehen, und über den großen Wert von Freiheit. Sie erspart dem Vater nichts und führt doch ein liebevolles Zwiegespräch.
Mit großer, poetischer Notwendigkeit geschrieben. Mindblowing. (Katharina Bischoff)
Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu
Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro
Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)