Frederick Kohner: Gidget – Mein Sommer in Malibu

Aus dem Amerikanischen von Hanna Hesse. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann, Fischer 2023, 176 S., € 22,-

Strand, Sonne, Wellen, Kalifornien. Völlig begeistert ist die 15-Jährige Franzie von den wagemutigen Künsten der Surfenden. Um jeden Preis will sie auch aufs Brett, was aus den Augen der ausschließlich männlichen Surfer schier unmöglich ist. Schließlich ist sie ein Mädchen, sind es die Fünfzigerjahre, doch Franzie lässt sich nicht unterkriegen. Schnell kriegt sie den Spitznamen Gidget (kleines Mädchen) verpasst und gehört damit irgendwie doch dazu. Sie wird immer besser, verliebt sich, verändert sich und führt ein Doppelleben, einerseits die kühne Surferin, andererseits die brave bürgerliche Tochter, die mit Lügengeschichten ihre Eltern austrickst. Das wäre jetzt eine heitere befreiende Coming-of-Age-Geschichte, die hier jedoch einen ganz anderen Dreh nimmt. Der schier ahnungslose Vater alias Frederick Kohner, ein jüdischer Drehbuchautor mit deutschen Wurzeln, hat den Auftrag seiner eigenen Tochter erfüllt und mit viel Augenzwinkern und Selbstironie ihre wahre Geschichte aufgeschrieben. Sie selbst wollte lieber surfen gehen. Dieses liebevoll karikierende Spiel mit den Perspektiven hat ab 1956 Gidget enorm populär gemacht mit hohen Auflagen und Verfilmungen. Jetzt kann die frische Neuübersetzung, die gekonnt mit dem Vokabular der Zeit spielt, einfach als entspannte Lektüre genossen werden. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Mariangela Di Fiore, Lisa Aisato (Illustr.): Wie man auf Einhörnern reitet

Übersetzt von Neele Bösche, Woow 2023, 56 S., € 18,-, ab 4

Die 6-jährige Vilja ist ein fröhliches Kind. Sie mag Einhörner und Piratenschiffe und spielt am liebsten mit ihrem besten Freund Sindre. Beide Kinder leben seit Monaten auf einer Kinder-Krebsstation. Dorthin nimmt dieses beeindruckende Bilderbuch mit und gibt Einblicke in den dann doch normalen Alltag einer kräftezehrenden Ausnahmesituation. Mariangela di Fiore trifft Viljas unverstellte, niemals rührselige Erzählstimme, die voller Mut und Hoffnung von ihrem Leben im Krankenhaus erzählt. In Lisa Aisatos unverkennbarem Stil betten anmutige und fantasievolle Illustrationen die Geschichte zurückhaltend und gefühlvoll ein.

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Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

Klett-Cotta 2023, 384 S., € 24,-

Stine – wie ihre Autorin 1986 geboren und zum Mauerfall erst drei Jahre alt – erinnert kaum Details der DDR-Zeit. Die Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern prägen sie dennoch und sind auch prägend für diesen Roman. Doch Rabe erzählt auch von Generationskonflikten jenseits der Wende-Thematik, von (Groß)Eltern, denen bedürfnisorientiertes Begleiten von Kindern fremd ist, für die Kinder funktionieren und vor allem gehorchen müssen. Dafür verschränkt die Autorin Kindheitserinnerungen mit Erfahrungen von Mutterschaft, wobei dies nur eines der sehr vielen Themenfelder Rabes ist. Dreh- und Angelpunkt sind die Recherchen zu Stines systemtreuen Opa Paul, die immer neue Fragen aufwerfen – Fragen nach Gewalt in der Familie, aber auch in der Gesellschaft der Nachwendezeit. Dabei schaltet sich stetig eine zweite Erzählinstanz zur Ich-Erzählerin Stine, die hinterfragt, kommentiert oder fortschreibt. Wäre der Text eine Bühnensituation oder Filmsequenz, hätte man eine Stimme aus dem Off im Ohr. Anne Rabe debütiert zwar literarisch, man erkennt jedoch deutlich die Handschrift der erfahrenen Essayistin, Dramatikerin und Drehbuchautorin. Im collagenhaften Aufbau, mal faktenreich, mal erzählerisch droht das Buch manchmal etwas zu zerfasern. Doch gelingt es Anne Rabe stets, die disparaten Teile fesselnd zusammenzuhalten. (Jana Kühn) Leseprobe

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Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Klett-Cotta 2023, 224 S., € 22,-

(Niente di Vero, Einaudi 2022, 165 p., ca € 22,50)

Es ist eine sehr spezielle Hölle, diese Familie. Der paranoide Vater zieht in der engen Wohnung Trennwände ohne Ende, die depressive Mutter verfolgt die Tochter mit Telefonterror, der Bruder ist ein Überflieger. Verbote, seltsame Regeln und Usancen prägen die Kindheit der Ich-Erzählerin, die sich als Jugendliche da mühsam herauszustrampeln versucht und als junge Erwachsene höchst kreativ originelle Taktiken entwickelt, um ein eigenes Leben zu führen. sie muss tricksen, lügen, verschiedenste Rollen spielen, obwohl sie am liebsten nichts tut und schweigt, wie sie behauptet. Verika, Vero, Gans, Mistkäfer, Spillerix, V., Veca … jede:r nennt und kennt sie anders. Gekonnt spielt die Autorin, ihr scheinbares Alter Ego, dabei mit den Erwartungen an Autofiktion von uns Leser:innen, die wir alles für bare Münze nehmen. Aber Nichts davon ist wahr oder vielleicht doch? Ihr bitterböser Sarkasmus, hinter dem eine tiefe Zuneigung für ihre Figuren aufblitzt, macht durch ihre leichtfüßige pointierte Sprache großes Vergnügen. (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Ulrike Draesner: die Verwandelten

Penguin 2023, 608 S., € 26,-

Dass Kriegskinder ihre Traumata bis in die dritte Generation weitergeben, ist der breiteren Öffentlichkeit seit den erfolgreichen Büchern von Sabine Bode „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ bekannt. Ulrike Draesner verarbeitet das Thema nun in einem beeindruckenden, vielstimmigen und sprachmächtigen Roman.
Alissa wird in einem Heim des nationalsozialistischen „Lebensborn“ geboren, mit fünf Jahren von einem wohlhabenden nationalsozialistischen Paar adoptiert und wächst als Gerhild auf. Dass sie die Tochter der Köchin Adele aus Breslau ist, die vom Hausherren geschwängert wurde, entdeckt sie erst im hohen Alter.
Ihre Halbschwester Renate erfährt Ende des Krieges die Vergewaltigung durch russische Soldaten und verwandelt sich in Walla, um zu vergessen und im nun polnischen Breslau/Wrocław bleiben zu können.
Erst als ihrer beiden Töchter Kinga und Dorota – Nebelkinder, im Schweigen aufgewachsen –  einander begegnen, lösen sich die düsteren Spuren der Vergangenheit in einer möglicherweise klareren Zukunft auch für Kingas Adoptivtochter Flummy, „Krieg und Nachkrieg entkommen. Vielfach verwurzelt“.
Ulrike Draesner, die als Lyrikerin mit der Sprache virtuos zu wirken versteht, gibt den „Verwandelten“ eine Stimme. In Zeit- und Personenwechseln – mal spricht Alissa im Alter, mal als kleines Mädchen, mal Kinga oder Doro, mal Reni, ihre Mutter Else oder Adele – entfaltet sich ein überaus beeindruckendes Panorama weiblicher Lebenserfahrungen im 20. Jahrhundert. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel

Wagenbach 2023, 304 S., € 26,-

Die Aushilfskellnerin Suzu lebt in einer japanischen Großstadt anonym und zurückgezogen. Kontakte mit Menschen begrenzt sie auf das Nötigste, hin und wieder ein Date ohne Folgen. Eine gewisse Leere muss sie empfunden haben, legt sie sich doch einen Hamster zu.  Als sie mangels „Liebreizes“ ihre Arbeit verliert, nimmt die phlegmatische junge Frau einen ungewöhnlichen Job an. Sie wird Teil einer Truppe, die die unappetitlichen geruchsintensiven Überreste von unbemerkt Gestorbenen reinigt. Es kostet sie zwar Überwindung, was der charismatische lebenslustige Chef nicht gelten lässt. Er verlangt von seinem Team höchsten Einsatz, was gemeinsame tägliche Besuche von Badehaus und Restaurant einschließt. Zugleich erschließt er seinen Leuten, eben auch Suzu und ihrem verschlossenen jungen Kollegen, ihre Arbeit ernst zu nehmen, die Vorgeschichten und die Würde der einsam Gestorbenen, der Kodokushi, zu achten. Peu à peu verändert sich dabei Suzus eigenes Leben. Mit Leichtigkeit und Eleganz verzahnt die Autorin die großen Fragen vom Leben und Sterben, von Nähe und Distanz, Gesellschaft und Einsamkeit, um sie sogleich spielerisch durcheinanderzuwirbeln. Erhöht wird das Lesevergnügen durch einen Anhang, der japanische Begriffe und Spezifika erklärt. (Stefanie Hetze)

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Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, Verlag Klaus Wagenbach 2022, 320 S., € 26,-

(L’acqua del lago non è mai dolce, Bompiani 2021, ca. 22,50 €)

Ein Roman, der uns mit Wucht in die Realität der italienischen Provinz katapultiert. Gaia, die Ich-Erzählerin, wächst unter prekärsten Bedingungen auf. Der Vater sitzt seit einem Schwarzarbeitsunfall querschnittsgelähmt passiv herum, während die kämpferische Mutter, eine Mamma Roma, alles mit Ach und Krach über Wasser hält. Mit Tricks schafft diese es, die Familie raus aus Rom in eine Kleinstadt mit vielen Wohlsituierten am Lago di Bracciano zu bugsieren. Für die Tochter beginnt ein enormer Spagat. Sie soll den Aufstieg schaffen, der ihrer Mutter verwehrt ist. Dazu muss sie lernen, noch mehr pauken und jeden Tag den langen Weg nach Rom in eine Reichenschule pendeln. Dabei will sie wie die anderen Dinge anhäufen und sich vergnügen.  Doch so sehr sie sich anstrengt, sie bleibt die bemitleidete Außenseiterin, der sich auch als Erwachsene die Türen versperren. Da hilft nur unbändige Wut, die sich vielfach gewaltsam entlädt. Wie Giulia Caminito die Bandbreite an aufgestauten und ausbrechenden Gefühlszuständen ihrer Protagonistin austariert, ist grandios, verstörend und enorm berührend. Glasklar und unmittelbar ist dazu die deutsche Übertragung von Barbara Kleiner – eine Lektüre, die nachhallt. (Stefanie Hetze)

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Cesare Pavese & Bianca Garufi: Großes Feuer

Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Atlantis 2022, 128 S., € 20,-

(Fuoco grande, Einaudi 2022, ca. € 15,-)

Dieser knappe Roman hat es in sich: Ein Telegramm holt Silvia aus einer norditalienischen Stadt zurück in ihr Heimatdorf im Süden, zu ihrer Familie und Vergangenheit. Sie überredet ihren Ex-Freund Giovanni, sie zu begleiten, obwohl sie ihn eigentlich eklig findet. Ihm macht ihr Angebot Hoffnung. Bei ihr Zuhause treffen sie auf einen sterbenden Jungen, eine verstörte Mutter, einen übergriffigen Stiefvater und eine verschlossene Hausangestellte. Nehmen diese ihnen ihre vermeintliche Verlobung ab? Was hat es mit dem Jungen auf sich? Was ist damals passiert? Abgründe aus der Vergangenheit tun sich auf, die weit in die Gegenwart hineinreichen: Vergewaltigung, Mißbrauch, absolutes Schweigen. Ihre und seine Perspektive im vierhändig geschriebenen Roman erhöhen die Spannung enorm, lassen die unterschiedliche Wahrnehmung und Deutung der Geschehnisse nachvollziehbar werden. Maja Pflug trifft in ihrer schnörkellosen Übersetzung absolut den messerscharfen Ton des Originals. Atemberaubend! (Stefanie Hetze)

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Shari & André Dietz, Saskia Gaymann (Illustr.): Ich bin MARI

arsEdition 2022, 32 S., € 15,-, ab 4

Mari lebt mit ihren Eltern, drei Geschwistern und zwei Hunden zusammen. Wie die meisten Kinder liebt sie ihren turbulenten Familienalltag. Sie spielt gerne, geht in die Schule und genießt es, im von ihrem Bruder geschobenen Einkaufswagen durch den Supermarkt zu flitzen. Doch Mari ist, wie ihre Geschwister sagen, besonders. Sie hat einen seltenen Gendefekt. Wie sie sich verständigt, was sie alles kann, aber auch was ihr schwerfällt oder gar nicht geht, davon erzählt sie in diesem unbeschwerten Bilderbuch zum Thema Inklusion. Maris Stimme geben ihr dabei ihre Eltern, die offen und mit ansteckender Sympathie aus ihrem Leben und dem ihrer Geschwister erzählen und die Leser:innen einladen, Mari unverkrampft und auf Augenhöhe zu begegnen. Blick ins Buch

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Shiila Lippold (Illustration): Mimis kunterbunte Ferien

Ulila Verlag 2022, 14 S., € 17,90, ab 2

Im 2. Wimmelbuch der Reihe begibt Mimi sich mit den Zwillingen Freddy und Frida, mit denen sie schon lang befreundet ist, sowie Papa Tim auf Besuchsreise quer durchs Land. Gleich auf dem großstädtischen Bahnhof ist viel urbanes Leben und Treiben zu entdecken. Dann gehts weiter zu den unterschiedlichsten Kindern und ihren Familien, die sich auch in ihren Wohnverhältnissen stark unterscheiden: vom Hausboot über den Plattenbau bis zum Bauernhof ist alles dabei. Und das Schöne ist, die betrachtenden Kinder können auch in die Nachbarwohnungen, -häuser, -campingwagen … hineinschauen und da weitere interessante Details wahrnehmen und diverse Alltagsszenen betrachten, was reichlich Gesprächsanlässe bietet. Schon die jüngsten Kinder können sich in diesem Wimmelbuch vom Alltagsleben heute wiederfinden und dazu noch viel Spaß haben! Blick ins Buch

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