Maruša Krese: Trotz alledem

Aus dem Slowenischen von Liza Linde, mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Fischer Verlag 2023, 256 S., € 22,-

Maruša Krese war Lyrikerin, Autorin von Kurzgeschichten und Radiofeuilletons, alleinerziehende Mutter, Über-Lebenskünstlerin, weltoffene Kosmopolitin und Tochter hochdekorierter slowenischer Partisanen. In ihrem ersten Roman, den sie kurz vor ihrem Tod mit 62 Jahren veröffentlichte, verarbeitet sie, wie so oft in Debüts, ihre eigene Familiengeschichte. Dabei wählt sie jedoch einen Kunstgriff, der den Roman zu einem literarischen Juwel macht. Für ihre drei Hauptpersonen Mutter, Vater und sich selbst wählt sie drei Stimmen. Sie, Er, Ich. Mitten im extrem harten Partisanenkrieg erzählen abwechselnd Sie und Er ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Nach dem Krieg im kommunistischen Jugoslawien, in dem Sie und Er erst einmal Karriere machen und hohe Preise dafür zahlen, kommt Ich mit der Wahrnehmung einer anderen freiheitsliebenden Generation hinzu, wechseln die drei Innenperspektiven auf die massiven politischen Umwälzungen einander ab. Das ist Geschichte von innen erzählt. Beeindruckend. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Katharina von der Gathen & Anke Kuhl (Illustr.): Radieschen von unten

Das bunte Buch über den Tod für neugierige Kinder. Klett Kinderbuch 2023, 160 S., € 22,-, ab 8

Kann ein Buch übers Sterben und den Tod leichtfüßig daherkommen und sogar lustig sein? Und dabei fundiert erzählen von dieser besonderen Lebenssituation, die uns alle betrifft?  Ja, diesem neuen Gemeinschaftswerk Katharina von der Gathens und Anke Kuhls gelingt es, die vielen Facetten von Sterben und Trauern anschaulich, und direkt zu schildern. Für Kinder oft verwirrende, aber auch höchst interessante Vorgänge werden aus vielerlei Perspektiven erläutert: z.B. wie Sterben geht oder was bei Beerdigungen passiert. Die mal schrägen, mal einfühlsamen Illustrationen Anke Kuhls kommentieren die sachlichen Informationen aus Kindersicht. Interviews mit Menschen, die beruflich mit dem Tod zu tun haben, Beispiele vom Umgang mit dem Tod in anderen Kulturen und Zeiten, Begriffserklärungen, Witze übers Sterben und sogar Bastelanleitungen runden dieses grandiose Buch ab, das dem Sterben seine Tabus und die Gefühle von Kindern absolut ernst nimmt. Ein geniales Familienbuch. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Deniz Utlu: Vaters Meer

Suhrkamp Verlag 2023, 384 S., € 25,-

Yunus ist 13, als sein Vater fällt, zwei Schlaganfälle erleidet und von nun an im Locked-in-Syndrom gefangenen ist, nur noch mit den Augen kommunizierend. Als junger Erwachsener versucht Yunus sich ein Bild des Anwesend-Abwesenden zu machen.
In Zeitsprüngen, die von der Kindheit des Vaters bis in die Gegenwart mäandern, erzählt er von einem „Berg von einem Mann“, der ihm die Welt erklärte, herzlich lachen, heftig fluchen und wunderbar kochen konnte. Aufgewachsen in der südostanatolischen Stadt Mardin, ging er zum Studium nach Istanbul und später nach Hannover, wo er schließlich Ingenieur wurde. Ein junger, lebenshungriger, leidenschaftlicher aber auch zutiefst einsamer Mann. Doch er erzählt auch von seiner Mutter, die für diesen Mann eine Universitätslaufbahn als Biologin aufgab, und von sich selbst, der Haltlosigkeit des vaterlosen Jugendlichen und seiner Suche nach dem Wesentlichen zwischen den greifbaren Dingen.
Deniz Utlu geht von Autobiografischem aus, Vaters Meer ist aber kein autobiographischer Roman. Der Autor suchte nach dem „Raum, der zwischen Erinnertem und Imaginiertem“ besteht und hat uns einen beglückend poetischen, vielschichtigen und feinsinnig-sensiblen Text geschenkt. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Anne Berest: Die Postkarte

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Berlin Verlag 2023, 539 S., € 28,-

Ephraim, Emma, Noemi, Jacques – aus dem Nichts erhält Anne Berests Mutter Neujahr 2003 eine anonyme Postkarte, nur mit den Vornamen ihrer 1942 in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Sie verstört die Familie, doch mangels Erklärung wird sie beiseitegelegt und nie wieder erwähnt. Verdrängen war die Regel, hatte doch Myriam, die Großmutter, die nur durch ein „dünnes Zufallfädchen“ die Naziherrschaft überlebt hatte, über die Vergangenheit geschwiegen. Erst Jahre später, als die Autorin hochschwanger bei ihren Eltern auf die Geburt wartet, erinnert sie die Karte und möchte von ihren Vorfahren hören. Doch erst als ihre eigene Tochter in der Schule antisemitisch diffamiert wird, beginnt sie ernsthaft, die Geschichte ihrer Angehörigen zu recherchieren. Dabei kann sie sich auf das Archiv ihrer Mutter stützen, die, ohne darüber zu reden, alles Erdenkliche zur Familiengeschichte gesammelt hat. Mit Hilfe von Kriminologen und Nachforschungen aller Art wird peu à peu die vielgestaltige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und unverhoffte Wendungen nimmt, aufgerollt. Das ist spannend und mitreißend wie in einem Krimi erzählt, wird aber durch die Passagen, in denen sie von ihren Rechercheschritten berichtet und uns am persönlichen Austausch mit ihren Angehörigen teilhaben lässt, zu einer direkten Einladung, sich selbst zu seinem eigenen Verhalten zu befragen. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Veronica Raimo: Nichts davon ist wahr

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Klett-Cotta 2023, 224 S., € 22,-

(Niente di Vero, Einaudi 2022, 165 p., ca € 22,50)

Es ist eine sehr spezielle Hölle, diese Familie. Der paranoide Vater zieht in der engen Wohnung Trennwände ohne Ende, die depressive Mutter verfolgt die Tochter mit Telefonterror, der Bruder ist ein Überflieger. Verbote, seltsame Regeln und Usancen prägen die Kindheit der Ich-Erzählerin, die sich als Jugendliche da mühsam herauszustrampeln versucht und als junge Erwachsene höchst kreativ originelle Taktiken entwickelt, um ein eigenes Leben zu führen. sie muss tricksen, lügen, verschiedenste Rollen spielen, obwohl sie am liebsten nichts tut und schweigt, wie sie behauptet. Verika, Vero, Gans, Mistkäfer, Spillerix, V., Veca … jede:r nennt und kennt sie anders. Gekonnt spielt die Autorin, ihr scheinbares Alter Ego, dabei mit den Erwartungen an Autofiktion von uns Leser:innen, die wir alles für bare Münze nehmen. Aber Nichts davon ist wahr oder vielleicht doch? Ihr bitterböser Sarkasmus, hinter dem eine tiefe Zuneigung für ihre Figuren aufblitzt, macht durch ihre leichtfüßige pointierte Sprache großes Vergnügen. (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Aron Boks: Nackt in die DDR

Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat. Harper Collins 2023, 400 S., € 24,-

Wenn ich heute auf mein Kunstgeschichtsstudium zurückblicke, dann fällt mir keine Vorlesung ein, in denen Künstler*innen der DDR auch nur erwähnt worden wären. Mehr als verwundert habe ich 2009 im Martin Gropius Bau die Ausstellung „60 Jahre, 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009“ besucht, in der kein*e einzig*er Künstler*in der DDR oder Ostdeutschlands vertreten war. Willi Sitte war mir dennoch selbstredend ein Begriff – gilt er doch aufgrund seiner Regierungs- und Parteinähe als der umstrittenste Künstler der DDR.
Die nun von seinem Urgroßneffen verfasste Biografie sei all jenen ans Herz gelegt, die vielleicht weniger kunsthistorisch bewandert, aber dennoch gesellschaftspolitisch und historisch interessiert sind. Aron Boks Erzählton in Nackt in die DDR ist erfrischend unakademisch und persönlich – erzählt er doch in weiten Zügen neben der stetig politisch durchzogenen Künstlerkarriere eben auch seine Familiengeschichte. Das macht den besonderen Reiz dieses ausführlichen Streifzugs aus, der mit Sittes Geburtsort im heutigen Tschechien beginnt und vor allem die Lebensgeschichte von Boks Urgroßvater Franz Sitte mit der des berühmten Bruders verknüpft. Boks Biografie liefert bei aller Bekanntheit seines Urgroßonkels einen weiteren dringend notwendigen Baustein einer Neubetrachtung und Bewertung von Künstler*innen aus der DDR, deren Werke mit dem Mauerfall fast vollständig aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. (Jana Kühn)

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Ilaria Jovine e Roberto Mariotti, illustrazioni di Marco Cabras: Volo senza grido

La lotta di Licia Pinelli. Becco Giallo 2021, pp. 128, dai 14 anni, ca. € 24,-

Licia Pinelli è ancora molto giovane quando perde il marito Giuseppe. La sua morte arriva all’improvviso e in circostanze poco chiare: Giuseppe Pinelli muore infatti in seguito al suo arresto, nel dicembre del 1969, precipitando da una finestra della questura di Milano, dove da pochi giorni è detenuto in attesa di un giudizio. Pinelli è ritenuto responsabile della strage di Piazza Fontana e si parla di suicidio, Giuseppe infatti è un militante anarchico e sugli anarchici cadono i primi sospetti. Licia affronta il lutto, la solitudine, alleva da sola due bambine, ma soprattutto lotta per ottenere dignità e giustizia e lo fa per quarant’anni, con forza e lucidità. Questa emozionante Graphic Novel narra la triste vicenda della famiglia Pinelli dal punto di vista della signora Licia, che si fa portavoce delle vicende di tante persone divenute vittime di un sistema politico ingiusto e discriminatorio e comunque capaci di continuare a lottare con coraggio e determinazione. (Giulia Silvestri)

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Isabel Fargo Cole: Die Goldküste

Eine Irrfahrt. Matthes & Seitz 2022, 367 S., € 38,-

Isabel Fargo Coles Ururgroßvater versuchte sich Ende des 19. Jahrhunderts am amerikanischen Traum. Er war, wie es in der Familie hieß, „abgehauen“ ins ferne unwirtliche Alaska auf der Suche nach Gold. Der Goldrausch entpuppte sich als Falle, wie viele andere seiner Generation fiel er auf Gerüchte, auf Fakes, hinein, musste er also scheitern. Wenig hat sich in der Familie von seinem Schicksal und dem seiner Angehörigen überliefert. Und so nutzt die Autorin die Goldene-Hochzeitsreise mit ihren Eltern genau dorthin, nach
Alaska, zu reisen, um mehr zu erfahren. Während sie mit den Eltern an einer naturkundlichen geführten Gruppenreise teilnimmt und geleitet Kontakt mit der überwältigenden, durch die Klimakatastrophe beschädigten Landschaft, mit Bären, Mythen, Historie aufnimmt, begibt sie sich gleichzeitig auf eine innere Forschungsreise der Lektüren, Recherchen und Reflexionen, die sie tief in die Fantasien und Abgründe der amerikanischen Gesellschaft hineinführt. Wie beim wirklichen Reisen macht sie Umwege, trifft sie auf Unvorhergesehenes, fördert sie Erstaunliches zu Tage. So wird die Lektüre zu einem echten Abenteuer. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Mithu Sanyal: Emily Brontë

Aus der von Volker Weidermann herausgegebenen Reihe „Bücher meines Lebens“.  Kiepenheuer & Witsch 2022, 160 S., € 20,-

Out on the wily, windy moors, we’d roll and fall in green. »Sturmhöhe / Wuthering Heights« hat die Jugendzeit vieler von uns stark geprägt. Viele leidenschaftliche Leser*innen haben den großen Roman früh entdeckt und mit seinen unvergesslichen Protagonisten geträumt und gelitten. Catherine und Heathcliff begleiten mich immer noch … Genauso geht es Mithu Sanyal, die nach dem vielfach gefeierten »Identitti« in diesem Buch über ihre lebensprägende Lektüre berichtet, denn Emily Brontës einziger veröffentlichter Roman ist eines der wichtigsten Bücher ihres Lebens. Sanyal bringt ihre persönliche Beziehung zu diesem Roman auf eine höhere Ebene: Sie analysiert Themen, Handlungen und Charaktere, sowie das Leben der früh gestorbenen Emily Brontë aus einer literarischen postmigrantischen Perspektive: „Die Hauptfigur Heathcliff wird als schwarz beschrieben“. In diesem großartigen Buch geht es eigentlich um Diskriminierung, Klasse, Gender, Erziehung, Herkunft… Wer hätte mit sechzehn gedacht, so viele Schichten in einer Schullektüre zu finden? (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Dacia Maraini: Caro Pier Paolo. Briefe an Pier Paolo Pasolini

Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Rotpunkt 2022, 208 S., € 25,-

(Caro Pier Paolo, Neri Pozza 2022, ca. € 22,80)

Fast ein Vierteljahrhundert nach seinem gewaltsamen Tod erscheint Dacia Maraini sanft lächelnd und sie direkt ansprechend ihr guter Freund Pier Paolo im Traum. Als sie ihn, glücklich ihn wiederzusehen, umarmen will, ist er verschwunden. Doch nimmt die Schriftstellerin die damit plötzlich wieder aufgetauchte Intensität an mit ihm verbundenen Erinnerungen zum Anlass, Briefe an ihn zu schreiben. Voller Zuneigung, aber auch mit dem liebevoll-kritischen Blick einer wirklich Vertrauten, erinnert sie sich an Pasolini, den Streitbaren, den Menschenfreund, den Dichter . . . An ihre Zusammenarbeit bei Drehbüchern, an ihre abenteuerlichen Reisen zusammen mit Alberto Moravia, manchmal mit Maria Callas, an ihren unaufhörlichen persönlichen und intellektuellen Austausch. Vor allem aber ist es ein intimes Buch über von einem großen Kreis rund um Pasolini, Moravia und Maraini innig und leidenschaftlich gelebte Freundschaften im Rom der Sechziger und Siebziger Jahre, die trotz aller Nähe und Zuneigung die innere Einsamkeit und Zerbrechlichkeit des Freundes nicht auflösen konnten. Fein ausbalanciert, was durch die meisterliche Übersetzung Maja Pflugs im Deutschen ein Genuss ist, ist das Buch nicht nur ein Muss für Pasolinifans. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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