Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro
Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)