Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu


Übersetzt von Verena von Koskull, S. Fischer 2024, 400 Seiten, 26 Euro

Kassandra in Mogadischu ist Igiaba Scegos erster, ins Deutsche übertragener Roman und zeigt uns nach dem kleinen Erzählband Dismatria die ganze Breite dieser virtuosen Erzählerin. Die politische und sehr persönliche Geographie einer Familie wagt große Bögen und webt Familien-, Kolonial- und Zeitgeschichte ineinander: Der Staatsstreich Siad Barres, die Flucht der Eltern und das Zerreißen der Familie, der Ausbruch des somalischen Bürgerkrieges, eine afro-italienische Kindheit und Jugend in einer Gesellschaft, die ihr koloniales Erbe ignoriert – eine Kassandra weit vor den Toren Mogadischus zur Passivität verdammt? Mitnichten. Diese Kassandra tritt dem Jirro, der diasporischen Krankheit von Krieg und Entwurzelung, entgegen und zieht quer durch die Sprachen, schafft Geschichte indem sie – gegen alle Widerstände – entschieden ihre Worte sucht und erzählt. Hier wird ganz deutlich: Postkoloniale Sprache und postkoloniales Sprechen sind grundverschiedene Dinge, ineinander verdreht und verwirkt. Letzteres werde ich, als weiße Deutsche in Deutschland, in seiner Komplexität nie emotional dechiffrieren, nie fühlen können, für ersteres bietet mir Scegos Kassandra einen Raum an, in dem sich mein Zuhören, mein Einfühlen schärft, Ambivalenzen spürbar werden. Kraftvoll, liebevoll, politisch unsagbar wichtig – unbedingt lesen! (Kerstin Follenius)

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James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit

Zum 100. Geburtstag von James Baldwin, übersetzt von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, dtv, 272 Seiten, 22 Euro.

Vor über 50 Jahren wurden James Baldwins Erinnerungen „No Name in the Street“ erstmals veröffentlicht, ein schneller, bruchstückhafter aber tiefgründiger, mal scharfer, mal zarter Ritt durch ein Leben als schwuler, schwarzer, amerikanischer Intellektueller. Jetzt wurden die Erinnerungen in einer neuen, diskriminierungssensiblen Übersetzung von Miriam Mandelkow neu herausgebracht. Die Erinnerungen beginnen in Harlem, New York, ganz kurz nur erzählt James Baldwin von seiner Familie, der Mutter, dem Stiefvater, mit dem es bekanntlich schwierig war, und seinen acht jüngeren Geschwistern. Auf diesen wenigen ersten Seiten offenbart sich der Blick, mit dem auf alle weiteren Ereignisse geguckt wird: ehrlich, radikal und schonungslos aber bisweilen liebevoll und fast zärtlich. James Baldwin reflektiert Machtverhältnisse und Rassismus, wenn er über Stationen in Paris, London, Hamburg, schreibt, von Begegnungen mit Martin Luther King, Malcom X und anderen Aktiven in der Bürgerrechtsbewegung erzählt (- ach, Pioniere -) oder über ein unbehagliches, weil die Entfremdung so groß geworden ist, Wiedersehen mit einem Freund aus Kindertagen nachdenkt. Er räumt auf mit grundlegend falschen (weißen) Annahmen, erzählt von einer – wie er im weiteren Verlauf ausführt – ihn tief verstörenden Reise in die Südstaaten, von einem dort noch mal ganz anders erlebten, weil segregierenden Rassismus, von der physisch spürbaren Angst beim Gang über ein Rollfeld. „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ ist keine leichte Lektüre, aber eine sehr notwendige. (Katharina Bischoff)

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Sidik Fofana: Dünne Wände

Aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Jens Friebe, Claassen, 256 Seiten, 23 Euro

Banneker Terrace ist eine Siedlung in Harlem, New York City. Die meisten Menschen hier kämpfen hart um ihren Lebensunterhalt, jeder Dollar ist schwer verdient und um jeden einzelnen geht es Monat für Monat beim Bestreiten der Miete. So manche*r Bewohner*in ist mit eben dieser schon im Rückstand – so wie Mimi, die eigentlich ganz gut um die Runden kommen könnte, aber ab und an wünscht sie sich eben ein kleines Stück Luxus. Der arbeitslose Swan, Vater ihres Kindes und hin und her gerissen zwischen der kleinkriminellen Lässigkeit seiner Kumpels und dem Wunsch, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, wohnt ebenfalls hier – er wiederum bei seiner Mutter. Ms Dallas schuftet in gleich zwei Jobs, als Schulbegleiterin und als Security-Assistenz am Flughafen, um das notwendige Einkommen für sich und Swan zu erwirtschaften. In acht dieser Art gekonnt miteinander verwobenen Episoden zeichnet Fofana ein detailreiches Bild der Menschen in der Siedlung. Für eine jede Person findet er einen ganz eigenen, kraftvollen wie sensiblen Erzählton, dem man quasi anhört, dass der Autor selbst in Brooklyn als Lehrer arbeitet und vermutlich viele persönliche Erlebnisse in seinen Erzählreigen hat einfließen lassen. Dabei kommt Fofanas Roman-Debüt bei aller thematischen Brisanz mit großer sprachlicher Leichtigkeit daher – Chapeau Jens Friebe! (Jana Kühn)

bell hooks: Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit

Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft. Sandmann 2024, 176 S., € 24,-

Die feministische Autorin und Intellektuelle bell hooks steht für außergewöhnliche Sachbücher,  in denen sie sich richtungsweisend mit Geschlecht, Liebe, Klasse und Race auseinandersetzt. Endlich erscheint in deutscher Übersetzung ihr Memoir über ihre Kindheit, das im Original bereits 1996 erschien und in dem sie ihre großen Themen literarisch verdichtet. In kurzen Kapiteln erzählt sie vom Aufwachsen in einer armen Schwarzen Familie, in der viel Gewalt herrscht, in der die Mutter aber dennoch versucht, ihren Kindern mehr als Nahrung und Kleidung zu bieten. Nur bei dieser Tochter, die so sehr ihren eigenen Kopf hat, scheitert sie und sondert sie regelrecht aus. Als Kind schon Außenseiterin in der eigenen Familie retten sie die Bücher und die Erzählungen ihrer Vorfahren. Notgedrungen beginnt sie früh aus ihrer isolierten Position heraus, für sich nachzudenken und eigene Sichtweisen zu entwickeln. In ihren Erinnerungen wechselt sie dabei zwischen der Innenperspektive und einem Blick von Außen, erzählt so ganz persönlich von sich und objektivierend von vielen US-amerikanischen Schwarzen Mädchen ihrer Zeit.  Das ist anregend, klug, großartig. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Ayòbámi Adébáyò: Das Glück hat seine Zeit

Aus dem Englischen von Simone Jacob, Piper 2023, 496 S., € 26,-

Die Familie des 15jährigen Eniola lebt seit der Arbeitslosigkeit des Vaters in immer größerer Armut. Gerade noch so halten sie den immer ungeduldigeren Vermieter ihrer Ein-Zimmer-Wohnung hin. Wuraola, die aus einer sehr wohlhabenden Familie stammt, kämpft wiederum als junge Assistenzärztin mit den Widrigkeiten des maroden nigerianischen Gesundheitssystems. An und für sich haben beide nur wenig gemeinsam. Doch Ayòbámi Adébáyò lässt ihre Wege in einer Schneiderei kreuzen, wo Eniola als Laufbursche arbeitet und Wuraolas Mutter hochverehrte Stammkundin ist. So erfahren wir abwechselnd vom Alltag und aus dem Umfeld zweier Familien, deren sozioökonomischer Status kaum unterschiedlicher sein könnte. Erzählerisch gekonnt, fesselnd und mit stetig steigendem Tempo bildet Adébáyò so einerseits ein gesellschaftliches Panorama des heutigen Nigerias im Strudel aus fragwürdigen Traditionen und Machtmissbrauch auf vielen Ebenen ab. Andererseits sind gerade aus familiärer Sicht diese Konflikte universell und leider durchaus übertragbar auf unsere Breiten. (Jana Kühn)

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Toni Morrison: Rezitativ

Mit einem Nachwort von Zadie Smith. Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels, Rowohlt 2023, 96 S., € 20,-

Dieses schmale Buch hat es in sich! Dabei ist die Handlung relativ unspektakulär. Zwei Mädchen in einem Kinderheim werden zu unzertrennlichen Komplizinnen, trotzen gemeinsam den dortigen Zumutungen und der Trennung von ihren Müttern.  Als sich ihre Wege trennen, verlieren die einstigen Gefährtinnen einander aus den Augen. Bei zufälligen Begegnungen als Erwachsene können sie nicht an ihre Vergangenheit anknüpfen, sind sie einander mehr als fremd. Das Außergewöhnliche an dieser einzigen Erzählung Toni Morrisons ist, dass die Autorin schon auf der ersten Seite klarstellt, dass beide Mädchen eine unterschiedliche Hautfarbe haben, nur verrät sie nicht, wer von den beiden schwarz oder weiß ist. Das erzeugt bei der Lektüre große Irritationen, ertappt man sich immer wieder, dies an bestimmten Details herausfinden zu können. Aber warum eigentlich? Dieses geniale Spiel mit den Fallen und Klischees von Wahrnehmung tariert die Nobelpreisträgerin meisterlich aus. Sie hat diese geniale  Erzählung bereits 1983 veröffentlicht. Vierzig Jahre später können wir sie nun endlich auf Deutsch lesen, angereichert durch Zadie Smiths erhellendes Nachwort. (Stefanie Hetze)  Leseprobe

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Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Aus dem Englischen von Karen Gerwig, Culture Books 2022, 328 S., € 25,-, TB Unionsverlag 2024, € 15,-

Bilder von den Stränden Barbados‘ wecken Fernweh – was für ein Paradies! Scheinbar muss man sagen, bzw. längst nicht für alle. Dies zeigt sich schon auf den ersten Seiten dieses Romans, der hauptsächlich in den Sommermonaten des Jahres 1980 auf der karibischen Insel spielt. Die junge, hochschwangere Lala steigt mitten in der Nacht eine steile und gefährliche Treppe hinab ans Meer. Sie verliert Blut und sucht ihren Mann Adan, einen Kleinkriminellen, der wieder einmal nicht nach Hause gekommen ist. Fast zeitgleich verliert Mrs. Whalen ihren Ehemann, der bei einem nächtlichen Raubüberfall in ihrer luxuriösen Strandvilla erschossen wird. Gekonnt verschränkt Cherie Jones diese beiden Erzählstränge, verspinnt aber auch weitere Perspektiven wie Lalas Großmutter, besagten Adan, einen Polizisten, einen Gigolo. So entsteht in der Chronologie der Sommertage sowie zahlreichen Rückblenden, vor allem aber über alle Klassen hinweg ein lebendiges wie eindringliches Panorama der Inselbewohner:innen. Schonungslos, muss man sagen, zieht Jones ihre Leser:innen immer tiefer in eine Spirale brutaler, patriarchaler Gewalt. Allerdings verfällt sie dabei keineswegs in misogyne Muster wie so manch anderer Krimi. Sie zeigt ihre Figuren wohl als verletzliche Opfer, vor allem aber als Frauen beim Versuch, einer alles dominierenden Armut zu entkommen. (Jana Kühn) Leseprobe

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Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser Verlag 2022, 448 S., € 27,-

Der junge senegalesische Autor Diégane lebt in Paris, arbeitet an seinem ersten Roman und diskutiert nächtelang leidenschaftlich mit seinen Freunden über Literatur. Als er den Roman von T.C. Elimane, einem gleichfalls senegalesischen Autor aus den dreißiger Jahren, zu lesen bekommt, ist er davon so gebannt, dass er beginnt, Nachforschungen anzustellen. Ein Mythos rankt sich um das Buch, von dem nur noch ein Exemplar existiert. Jeder, der es gelesen hat, ist davon zutiefst berührt. Wer war „der schwarze Rimbaud“, der, nachdem sein Roman zunächst gefeiert und dann von Plagiatsvorwürfen überzogen wurde, spurlos verschwand? Anhand dieser Suche spinnt Sarr ein vielfältiges Geflecht aus facettenreichen mal berührenden, mal verstörenden, bisweilen erotischen oder auch mystischen Stimmen, das nicht nur der Person Elimanes immer näher kommt, sondern virtuos von der Macht des Wortes, dem Bild schwarzer Autoren im europäischen Kontext und der senegalesische Gesellschaft erzählt. Ein fesselndes, elegantes Werk voller Anspielungen und Ironie, das völlig zu Recht den Prix Goncourt 2021 verliehen bekommen hat. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Natalie Bayer / Mark Terkessidis (Hg.): Die postkoloniale Stadt lesen

Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg. Verbrecher Verlag 2022, 352 S., € 20,-

Nicht alle sind über die Spuren des Kolonialismus informiert, gerade nicht über solche, die in den zentralen Bezirken Berlins, Kreuzberg und Friedrichshain, in denen viele von uns wohnen und arbeiten, zu finden sind. In diesem wissenschaftlichen Essayband befassen sich mehrere Autor*innen mit historischen Persönlichkeiten sowie auch mit bestimmten Orten der Hauptstadt, die eine Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte gespielt haben und auf die eine oder andere Weise das Stadtbild geprägt haben. Es wird untersucht, wie der Kolonialismus noch in der Gegenwart anwesend ist. Nach dieser Lektüre wird ein Spaziergang am Spreeufer, oder das Betrachten des alten Schildes der ehemaligen Oranien-Apotheke am Oranienplatz anders. Ein spannender, trotz wissenschaftlicher Form zugänglicher Überblick über einen zu oft unbekannten Teil der Geschichte unserer Stadt. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Ann Petry: The Narrows

Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann, Nagel & Kimche 2022, 544 S., € 28,-; TB September 2023, € 15,-

(Stand September 2023)

Link ist ein junger Mann mit hervorragendem Universitätsabschluss, schön wie ein Adonis, einst Star der Footballmannschaft seines Colleges, brillant und sensibel. Doch in der Kleinstadt in der Nähe von New York Anfang der 1950er Jahre hilft ihm das wenig. Aufgewachsen als schwarzes Adoptivkind in der berüchtigten Gegend am Fluss, den Narrows, bei der ehemaligen Lehrerin Abbie Crunch, die stets Angst hat, etwas „racetypisches“ zu tun, und geprägt von Bill Hod, dem Boss der Unterwelt, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Stolz auf seine Herkunft vermittelt, arbeitet er als Barmann in Hod’s Kneipe The Last Chance.
Als Link eines Abends einer jungen weißen Frau begegnet, entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen den beiden, bis Link durch Zufall herausfindet, dass sie verheiratet ist, und zwar mit dem reichsten Mann des Städtchens. Von da an nimmt das unausweichliche Verhängnis in einer Melange aus verletztem Stolz, Klassendünkel und rassistischen Vorurteilen seinen Lauf.
Dieser Roman gilt als Petrys Hauptwerk, eine sensibel beobachtete Milieuschilderung, mit einem Panorama an charakterstarken Figuren und kunstvoller Verflechtung der verschiedenen Lebensgeschichten. Der Sound ihrer Sprache ist purer Jazz und die hervorragende Übersetzung von Pieke Biermann überträgt ihn auf beeindruckende Weise ins Deutsche. Fesselnde, ganz große Literatur. (Syme Sigmund)

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