Zora Del Buono: Seinetwegen

C.H.Beck, 2024, 201 Seiten, 23 Euro.

Zora del Buono ist acht Monate alt, als ihr Vater bei einem unverschuldeten Autounfall stirbt. Sie kennt die groben Umstände des Unfalls: ein missglücktes Überholmanöver, ein roter Chevrolet, die Initialien des Unfallverursachers. 60 Jahre später plötzlich der Wunsch, diesen E.T., den Töter des Vaters, zu finden. Seinetwegen ist das Protokoll einer Recherche. Durch Zeitungsartikel, Gerichtsurteile, Gespräche mit Zeitzeug*innen nähert sich die Autorin dem damaligen Unfallhergang und damit auch dem Töter an, der plötzlich einen richtigen Namen hat, ein Leben und eine Geschichte. Gleichzeitig reflektiert Zora del Buono ein von Verlust geprägtes Leben (nicht das Fehlen des Vaters ist schmerzhaft, die tiefe Trauer der Mutter ist es), lässt uns teilhaben an Beobachtungen, Erinnerungen, Begegnungen, stellt Listen auf (von Menschen, die bei Autounfällen starben, von bekannten Eigenschaften des Vaters, von Fakten über den Töter, von den eigenen Deformationen) und hadert mit den ungestellten Fragen an die Mutter – in einer Sprache, die nicht nüchtern ist, aber sehr klar, kein bisschen sentimental, aber berührend. Seinetwegen ist die unbedingt lesenswerte Autofiktion einer Menschenfreundin. Ehrlich – wie es scheint, zärtlich, manchmal schonungslos, oft humorvoll, immer klug. (Katharina Bischoff)

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Ruth Maria Thomas: Die schönste Version

S.Fischer 2024, 272 Seiten, 24 Euro.

Jella und Yannick. Leidenschaftlich. Voneinander überrascht. Verliebt. Am Anfang ihres Lebens. Ein Paar wie es so viele gibt. Bis ein Beziehungsstreit eskaliert, es fallen heftige Worte auf beiden Seiten und mit einem Mal ist alles anders als zuvor. Seine Hände schließen sich um ihren Hals und sie rettet sich in letzter Minute. Was der jungen Protagonistin Jella passiert ist etwas Normales. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist kein Phänomen vom Rand sondern sie geschieht. Ruth Maria Thomas nimmt sich dieses Themas an und wagt das Spagat, eine solch wichtige Geschichte zu erzählen, ohne sie zu reduzieren auf Fragen der Täter- oder Opferschaft. In die Wohnung des überforderten Vaters zurückgekehrt, folgen wir der Protagonistin auf ihrer Suche nach all den kleinen Kompromissen und übergangenen Zweifeln, die sie an diese Stelle führten. Welchen Preis hat sie gezahlt, um den begehrtesten Jungen im Dorf zu daten? Wie leicht war es, die beste Jugendfreundin in der Lausitz zurückzulassen, weil deren Lipgloss und T-Shirts durch die Augen der neuen Studienfreunde sonderbar aussahen? Eine Coming of Age Geschichte der späten Nullerjahre. Kompromisslos erzählt. Nicht aus der Hand zu legen. (Kerstin Follenius)

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David Wagner: Verkin

Rowohlt 2024, 400 Seiten, 22 Euro

In seinem Prolog teasert der Autor bereits kräftig an mit Ingredienzien wie Gartenparty, weißhaariger Armenierin im metallisch glänzenden Paillettenkleid, einer geschmuggelten weißen Van-Katze mit blauem und braunem Auge sowie mit Anspielungen auf „seltsame“ Reisen durch Istanbul, die Türkei und das Leben der besagten Verkin. Sogleich startet das erzählerische Feuerwerk, spielt David Wagner mit Fakten und Fiktion rund um ihr schillerndes Leben: Verkin, aus der wohlhabenden Oberschicht stammend, die schon als Jugendliche im Orientexpress zwischen ihren Schweizer Internaten und Istanbul unzählige Liebschaften anfing, X Mal verheiratet war, X Sprachen spricht, X wichtige Menschen kennt und als verfolgte Armenierin gleichzeitig AKP-Lokalpolitikerin ist.. . Oder ist doch alles erfunden? Eigentlich wollte sein Alter Ego, der Ich-Erzähler David, ein Buch über türkische Shopping Malls schreiben, aber bereits ein erster Besuch in ihrem sagenhaften Haus am Bosporus, eigentlich nur zur Übergabe deutscher Wurstwaren für ihren Katzenschmuggel bestimmt, treibt ihn in ihre Umlaufbahn. Immer wieder begleitet er sie als Teil ihrer Entourage in Istanbul und der Türkei und befragt sie über ihr Leben. Und sie erzählt freimütig, spottet über seine Begriffsstutzigkeit und setzt immer wieder eins drauf auf ihre phantastischen Geschichten, worauf der Erzähler weiter nachhakt. Es ist ungemein vergnüglich, dieser eigensinnigen kosmopolitischen Scheherazade zu lauschen! (Stefanie Hetze)

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Elsa Morante: La Storia

Aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski, Wagenbach 2024, 768 Seiten, 38 Euro.

Es ist eine unglaubliche Leseerfahrung, aufwühlend und beglückend zugleich, sich auf Elsa Morantes großen Roman La Storia einzulassen. Nicht nur erzählt sie von der zart-unbedarften Ida, die als Halbjüdin jung verwitwet, im faschistischen Rom der Vierzigerjahre  ganz allein auf sich gestellt ihren großspurigen Sohn Nino sowie ihr winziges Söhnchen Useppe durchbringen muss.  Neben dem hochdramatischen Schicksal ihrer Protagonistin, das sie fein austariert knallhart, diskret und voller Zuneigung erzählt, rückt sie immer wieder andere Figuren, denen die Gewalt der Verhältnisse ebenso übel mitspielt, in den Fokus ihrer epischen Schilderungen. Dass Armut, Vertreibung, Vernichtung Folgen einer verheerenden Weltpolitik sind, betont Morante durch ihre knappen Zusammenfassungen tatsächlicher historischer Ereignisse vor jedem Kapitel. Gleichzeitig feiert sie in ihrem Werk das Leben und die Freude am Sein, verkörpert  durch den hinreißenden Useppe. Umwerfend, wie die beiden Übersetzerinnen uns dank ihrer vielschichtigen lebendigen Übertragung mitnehmen in diese Zeit, an diesen Ort und in die Menschen hinein. (Stefanie Hetze)

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Hua Hsu: Stay True

Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube, aki 2024, 232 Seiten, 22 Euro.

Ich bin in einem anderen Land, mit einer anderen Sprache, anderen Privilegien als Hua Hsu aufgewachsen, ich habe andere Musik gehört und andere Entscheidungen getroffen. Aber die Art und Weise, wie Hua Hsu über jung sein und Freundschaft schreibt, über die Gleichzeitigkeit von Nonchalance und Ernsthaftigkeit, hat etwas sehr Universelles und tief Berührendes. Eigentlich spricht nichts dafür, dass Hua und Ken sich befreunden. Ken ist für Huas Maßstäbe zu laut, zu konventionell, zu gutaussehend, zu selbstsicher. Aber dann passiert es doch und plötzlich sprechen sie über Gott und die Welt, analysieren Filme bis tief in die Nacht, streiten über Musik, installieren Insiderwitze und gehen irgendwie davon aus, dass das für immer so bleibt. Bis Ken Opfer eines Raubmordes wird und Hua sich mit Trauer und Schuldgefühlen konfrontiert sieht. Stay True ist, wie der Untertitel verspricht, ein Memoir über eine Freundschaft – vor der Folie einer asian-american Herkunft und den damit einhergehenden Fragen von Identität und Zugehörigkeit, mit Exkursen zu Derrida (Politik der Freundschaft) und E.H. Carr (Was ist Geschichte) und Reflektionen über die Bedeutung von Kurt Cobain oder den perfekten Sound der Beach Boys. Es ist der fortwährende Versuch des Beschreibens eines Lebensgefühls, einer Zeit, und eben dessen, was eine (Jugend)Freundschaft eigentlich ausmacht. Oder – wie der Autor selbst es ganz am Ende des Buches sagt – der Versuch „den Geruch von Secondhand Rauch auf Flanell“ oder die „Sonne, die einen besonderen braunen Goldton erschuf“ zu beschreiben. (Katharina Bischoff)

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André Kubiczek: Nostalgia

Rowohlt Berlin 2024, 399 S., € 25,-

Zusammenhänge logisch herzuleiten und für Fassbares und Unerklärliches Wörter zu finden. Damit wächst André als Kind einer DDR-Intellektuellenfamilie in Potsdam auf, bei der die Stasi durch den seltenen Telefonanschluss quasi mit am Küchentisch sitzt. Beim Vater stimmt die Herkunft, aber bei seiner Mutter passt nichts. Obwohl Sozialistin und gewordene DDR-Bürgerin sprengt sie als stilbewusste Laotin aus der Oberschicht jeden Rahmen. Schon als Kind registriert André seismographisch, wo und wie sie aneckt und was seine Eltern sich als Überlebensstrategien einfallen lassen.  Auch er verlässt meist mit tiefgezogener Kapuze das Haus. Ein Leben als Drahtseilakt, dem mit er mit List und Abnabelung zu begegnen versucht. Wie in einer dokumentarischen Zeitmaschine nimmt der Autor uns mit in seine eigene Kindheit und Jugend. Es bleibt aber nicht bei einem atmosphärisch genauen Erinnerungsroman. Mit einem Twist rückt Kubiczek die Perspektive seiner schwerkranken Mutter ins Zentrum, was ihr Lebensdilemma eindrücklich fühlbar macht. Da ist ganz viel Zartheit im Spiel. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit

Zum 100. Geburtstag von James Baldwin, übersetzt von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, dtv, 272 Seiten, 22 Euro.

Vor über 50 Jahren wurden James Baldwins Erinnerungen „No Name in the Street“ erstmals veröffentlicht, ein schneller, bruchstückhafter aber tiefgründiger, mal scharfer, mal zarter Ritt durch ein Leben als schwuler, schwarzer, amerikanischer Intellektueller. Jetzt wurden die Erinnerungen in einer neuen, diskriminierungssensiblen Übersetzung von Miriam Mandelkow neu herausgebracht. Die Erinnerungen beginnen in Harlem, New York, ganz kurz nur erzählt James Baldwin von seiner Familie, der Mutter, dem Stiefvater, mit dem es bekanntlich schwierig war, und seinen acht jüngeren Geschwistern. Auf diesen wenigen ersten Seiten offenbart sich der Blick, mit dem auf alle weiteren Ereignisse geguckt wird: ehrlich, radikal und schonungslos aber bisweilen liebevoll und fast zärtlich. James Baldwin reflektiert Machtverhältnisse und Rassismus, wenn er über Stationen in Paris, London, Hamburg, schreibt, von Begegnungen mit Martin Luther King, Malcom X und anderen Aktiven in der Bürgerrechtsbewegung erzählt (- ach, Pioniere -) oder über ein unbehagliches, weil die Entfremdung so groß geworden ist, Wiedersehen mit einem Freund aus Kindertagen nachdenkt. Er räumt auf mit grundlegend falschen (weißen) Annahmen, erzählt von einer – wie er im weiteren Verlauf ausführt – ihn tief verstörenden Reise in die Südstaaten, von einem dort noch mal ganz anders erlebten, weil segregierenden Rassismus, von der physisch spürbaren Angst beim Gang über ein Rollfeld. „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ ist keine leichte Lektüre, aber eine sehr notwendige. (Katharina Bischoff)

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Sidik Fofana: Dünne Wände

Aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Jens Friebe, Claassen, 256 Seiten, 23 Euro

Banneker Terrace ist eine Siedlung in Harlem, New York City. Die meisten Menschen hier kämpfen hart um ihren Lebensunterhalt, jeder Dollar ist schwer verdient und um jeden einzelnen geht es Monat für Monat beim Bestreiten der Miete. So manche*r Bewohner*in ist mit eben dieser schon im Rückstand – so wie Mimi, die eigentlich ganz gut um die Runden kommen könnte, aber ab und an wünscht sie sich eben ein kleines Stück Luxus. Der arbeitslose Swan, Vater ihres Kindes und hin und her gerissen zwischen der kleinkriminellen Lässigkeit seiner Kumpels und dem Wunsch, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, wohnt ebenfalls hier – er wiederum bei seiner Mutter. Ms Dallas schuftet in gleich zwei Jobs, als Schulbegleiterin und als Security-Assistenz am Flughafen, um das notwendige Einkommen für sich und Swan zu erwirtschaften. In acht dieser Art gekonnt miteinander verwobenen Episoden zeichnet Fofana ein detailreiches Bild der Menschen in der Siedlung. Für eine jede Person findet er einen ganz eigenen, kraftvollen wie sensiblen Erzählton, dem man quasi anhört, dass der Autor selbst in Brooklyn als Lehrer arbeitet und vermutlich viele persönliche Erlebnisse in seinen Erzählreigen hat einfließen lassen. Dabei kommt Fofanas Roman-Debüt bei aller thematischen Brisanz mit großer sprachlicher Leichtigkeit daher – Chapeau Jens Friebe! (Jana Kühn)

Fred Vargas: Jenseits des Grabes

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Marquardt, Limes, 526 Seiten, 26 Euro.

Lange hat man nichts mehr gehört von Inspektor Adamsberg und seiner Brigade criminelle des 13. Arrondissements in Paris. Doch das Wiedersehen mit der Belegschaft im Kommissariat ist nur von kurzer Dauer, denn eine Zeitungsmeldung erregt Adamsbergs Aufmerksamkeit und die Reise beginnt, diesmal in die Bretagne, in einen kleinen Ort namens Louviec, der irgendwo in der Nähe des realen Schlosses Combourg angesiedelt ist. Ein holzbeiniges Gespenst soll dort leben, dessen nächtliche Schritte immer dann durch die Gassen hallen, wenn ein Unheil kurz bevorsteht. Und genauso so kommt es: das Holzbein klappert, das Morden beginnt. Aber es wäre nicht Vargas, wenn hier nicht alles Mystische am Ende doch sehr fest auf bretonischem Boden stünde. Der Fall ist wie immer zunächst vertrackt. Adamsberg beschreibt das so: „Letzte Worte ohne erkennbaren Sinn, Schatten auf die man nicht treten darf… das Fehlen jeglichen Motivs.“ Bei Johan, dem Dorfschenk, speisen die Pariser Ermittler üppig mit den bretonischen Kollegen und versuchen die Dorfgemeinschaft zu entschlüsseln – auf die vertraute Art: Mercadet muss viel schlafen, die Retancourt zeigt einmal mehr, dass man sehr weise sein muss, um stark zu sein und am Ende sind es wieder einmal die Flöhe die den rechten Weg weisen.  Wie immer bei der Vargas ist diese kluge Milieustudie einer Dorfgemeinschaft, auch ein so gut gebauter Krimi, dass man ihn nur weglegt, um irgendwie, möglichst schnell in die Bretagne zu kommen. (Kerstin Follenius)

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Nadine Olonetzky: Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist.

S.Fischer 2024, 448 S., € 25,-

Nadine Olonetzky ist fünfzehn Jahre alt, als ihr Vater den Zeitpunkt für gekommen hält, ihr von der Shoa zu erzählen, seiner Shoa: Auf einer Parkbank im Botanischen Garten in Zürich bricht er für einen Moment sein lebenslanges Schweigen und berichtet von der Verfolgung und Ermordung ihres Großvaters, ihrer Tante, seiner Internierung, seiner Flucht.
Für die Dauer eines Gartenjahres, das diese Geschichte rhythmisiert und im Wortsinne erdet, begleiten wir die Autorin auf ihrer Spurensuche durch die zahllosen Fotoalben und Tagebücher, die der Vater im Kampf gegen die eigene Geschichtslosigkeit manisch füllt, durch Akten aus Archiven in aller Welt. Erzählerisch und fast poetisch spürt Olonetzky einer Sprache nach, die ausbleibt, weil sie angesichts des Nicht-Sagbaren versagt, aber auch jener Sprache, die sich erneut schuldig macht, indem sie das Verbrechen im Nachhinein verwaltet. Jahrzehnte kämpfte der Vater im Geheimen um Wiedergutmachung. Die Ehe der Eltern überstand das nicht. Nadine Olonetzky braucht viele Jahre und 448 Seiten bis sie das lebenslange Schweigen des Vaters mit den Sätzen im Botanischen Garten in Einklang bringen kann.
Ein wichtiges, bestürzendes, trauriges aber helles und grundschönes Buch über die dunkle Zeit der Shoa, die mit dem Ende des Krieges noch lange nicht zu Ende war. (Kerstin Follenius) Leseprobe

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