Annett Gröschner (u.a.): Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich …

Hanser 2024, 320 S., € 22,-

und gründen den idealen Staat. Was Annett Gröschner und ihre Co-Autorinnen Peggy Mädler und Wenke Seemann dabei vor allem tun, ist ergründen, nämlich anhand individueller Erinnerungen sowie historischer Quellen und Statistiken die DDR, die Wendezeit und das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten. Das Mischungsverhältnis stimmt wie bei einer guten Bowle, nebst Rezept plus  Randnotiz, dass es die Bowle-Zutaten wie Mandarinen aus der Dose zu DDR-Zeiten nur im Delikat oder Intershop gab. Über sieben Nächte bzw. Kapitel mäandern die drei Autorinnen von Kollektiv- über Körperfragen zum utopisch schönen Verfassungsentwurf einer Nachwende-DDR bis hin zum Nachdenken über Christa T. Das ist erhellend wie unterhaltsam, beispielsweise wenn Philosophie und Gummitwist aufeinandertreffen und parallel die Regeln von Dialektik und Kinderspiel erläutert werden. Die Erzählform des Gesprächs erweist sich als kleiner Geniestreich, denn zwar sind sich die Autorinnen weitestgehend einig, bringen aber doch immer wieder andere Blickwinkel auf Geschehnisse ins Spiel, buchstäblich über historisches Bildmaterial sowie Wenke Seemanns Fotografien, die den Gesprächsverlauf anschaulich rahmen.  Eine feministische, smarte und dringend empfohlene Einordnung deutsch-deutscher Verhältnisse. (Jana Kühn) Leseprobe

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Alana S. Portero: Die schlechte Gewohnheit

Aus dem Spanischen von Christiane Quandt. Claassen 2024, 238 S., € 24,-

Sich dauernd verstellen zu müssen, zu einem Doppelleben gezwungen zu sein, damit wächst die Ich-Erzählerin als trans Mädchen in einem völlig heruntergekommenen Arbeiterviertel im Madrid der Achtziger Jahre auf. Ihre Eltern wollen aus ihr einen richtigen Jungen machen, während sie sich schon ganz früh sicher ist, ein Mädchen zu sein. Nur in heimlichen Badezimmermomenten kann sie sie selbst sein, die Familie und das harte Umfeld verlangen von ihr den ganzen Kerl. Abgeschreckt und fasziniert beobachtet sie, wie eine alte trans Frau in ihrer Nachbarschaft geächtet wird und sieht ihr eigenes queeres Schicksal voller Leid und Gefahren vorher.  Wie sie als Jugendliche versucht, sich da herauszuziehen, immer riskant am Limit lebt zwischen exzessiv-gefährlichen Nächten in der Innenstadt und dem gnadenlos rau-patriarchalen Alltag in der Arbeitervorstadt, ihr meist nur die Zuflucht Fantasie bleibt, schildert Alana Portero unglaublich dicht und lebendig. Ihre Suche nach Glück und Selbstverwirklichung trifft hauptsächlich auf Gewalt und Diskriminierung, wären da nicht andere trans Madrilenerinnen, die sie liebevoll-kritisch porträtiert. Ein Roman, der schillert, vibriert, fasziniert.  (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Mely Kiyak: Dieser Garten

Die unglaublich fabelhaften Nonnen aus Fulda und ihre genialen Erfindungen. Mikrotext 2024, 200 S. € 24,-

Irgendwann hat Mely Kiyak buchstäblich an die Pforte der Benediktinerinnen in Fulda geklopft und sich Einlass verschafft mit ihrem Begehren, genau von diesen Klosterfrauen gärtnern zu lernen. Schon seit den vierziger Jahren betrieben diese Nonnen Garten und Landwirtschaft in naturnaher Mischkultur,  hatten ein biologisches Gartenwundermittel entwickelt. Sie waren Gärtnerinnen durch und durch. Die Chemie zwischen den Expertinnen und der Praktikantin stimmte. Immer wieder und in langen Zeiträumen lernte und arbeitete Mely Kiyak bei ihnen, enge Freundschaften ohne Scheuklappen entstanden. Als Dank schenkte die Autorin dieser besonderen Gemeinschaft ein Buch über die Geschichte ihres Gartens. Der charmant-respektvolle Text, nun überarbeitet und mit einem persönlichen Nachwort Mely Kiyaks wieder aufgelegt, feiert diese Klosterfrauen: als tatkräftige Feministinnen und grandiose Visionärinnen mit genialen Marketingideen, immer gepaart mit Menschlichkeit und viel Humor.  Leichtfüßig und zutiefst zugewandt hat die Autorin ihre Liebeserklärung an diese Frauen verfasst. Ein großes Leseglück! (Stefanie Hetze)

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Dilek Güngör: A wie Ada

Verbrecher Verlag 2024, 195 S., € 20,-

Ada ist anders, als die anderen. Das merkt sie im Kindergarten, in der Schule, als Erwachsene. Auf die Frage, woher sie kommt, weiß sie keine Antwort. Sie weiß nur, dass man da, wo sie herkommt stauchen statt treten und heben statt halten sagt. Die Frage nach der Dazugehörigkeit ist das Leitmotiv, an dem entlang Dilek Güngör durch Adas  Leben mäandert. Unchronologisch erzählt sie in manchmal sehr konkreten, manchmal abstrakten Miniaturen von Adas Erleben einer Welt, die ihre Welt, ihr Alltag ist und in der sie sich doch oft als Gast, anders, fremd fühlt.

Dilek Güngör beherrscht die Kunst des mit wenigen Worten großen Erzählens. Situationen aus Adas Leben, Erinnerungen werden nie auserzählt, oft nur angerissen. Wenig Greifbares erfahren wir von diesem Leben und es wäre gar nicht so leicht, die Figur zu umreißen. Gleichzeitig sind wir mittendrin und die manchmal humorvoll, oft lakonisch, immer zart gestellten Fragen nach Herkunft und Klasse, die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zeichnen nicht nur das poetische Portät einer sehr zwiespältig empfindenden Protagonistin, sondern sind offen genug, um sich als Leser*in selbst dazu ins Verhältnis setzen zu können. (Katharina Bischoff) Leseprobe

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bell hooks: Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit

Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft. Sandmann 2024, 176 S., € 24,-

Die feministische Autorin und Intellektuelle bell hooks steht für außergewöhnliche Sachbücher,  in denen sie sich richtungsweisend mit Geschlecht, Liebe, Klasse und Race auseinandersetzt. Endlich erscheint in deutscher Übersetzung ihr Memoir über ihre Kindheit, das im Original bereits 1996 erschien und in dem sie ihre großen Themen literarisch verdichtet. In kurzen Kapiteln erzählt sie vom Aufwachsen in einer armen Schwarzen Familie, in der viel Gewalt herrscht, in der die Mutter aber dennoch versucht, ihren Kindern mehr als Nahrung und Kleidung zu bieten. Nur bei dieser Tochter, die so sehr ihren eigenen Kopf hat, scheitert sie und sondert sie regelrecht aus. Als Kind schon Außenseiterin in der eigenen Familie retten sie die Bücher und die Erzählungen ihrer Vorfahren. Notgedrungen beginnt sie früh aus ihrer isolierten Position heraus, für sich nachzudenken und eigene Sichtweisen zu entwickeln. In ihren Erinnerungen wechselt sie dabei zwischen der Innenperspektive und einem Blick von Außen, erzählt so ganz persönlich von sich und objektivierend von vielen US-amerikanischen Schwarzen Mädchen ihrer Zeit.  Das ist anregend, klug, großartig. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Luna Ali: Da waren Tage

S. Fischer 2024, 304 S., € 24,-

Es ist der 15. März 2011. In Syrien bricht der Arabische Frühling aus, in Deutschland beginnt Aras sein Jurastudium, 12 Jahre nachdem er mit Schwester und Mutter Aleppo verließ. Der Jahrestag der Syrischen Revolution wird zum roten Faden, entlang dessen Luna Ali uns durch das Leben ihres Protagonisten führt. Hörsäle, Alltag zwischen Beziehung, Familienleben und Ausländerbehörde. Ein Interview zur Lage in Syrien. Die inhaltlichen Sprünge zwischen den Kapiteln werden gewagter, die sich zuspitzende Gewalt in Syrien wirkt sich auf Aras Leben in Deutschland aus, so wie andere Geschichten nach vorne dringen. Die sind schön erzählt, verstörend, nicht immer leicht zu lesen. Wenn Luna Ali die Wurzeln von Assads Schergen in eine deutsche Nazivergangenheit offenlegt, zum Beispiel. Oder wenn sie die Parallelität von Geschichte(n), die in Migrationsbiographien eine so bedeutende Rolle spielen, ernst nimmt und ganze Passagen in Spalten erzählt.
Was Sprache mit einer Biographie macht, zeigt uns Da waren Tage zwischen den Zeilen. Ali ist da wirklich etwas gelungen – eine junge, weibliche Stimme, die etwas wagt und der Sprache ebenso viel zumutet, wie sie ihr Vertrauen schenkt. (Kerstin Follenius) Leseprobe

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Percival Everett: James

Aus dem Amerikanischen  von Nikolaus Stingl, Hanser 2024, 336 S., € 26,-

James, der vor einem Verkauf durch seinen Sklavenhalter flieht, und der Junge Huck, der aus demselben Hause weggelaufen ist, treffen einander unerwartet auf einer kleinen Insel im Missippi, den sie bald darauf zusammen auf einem wackeligen Floß befahren. Wem diese Geschichte bekannt vorkommt, täuscht sich nicht, denn Percival Everett hat mit James eines der Schlüsselwerke der US-amerikanischen Literatur und Mark Twains bekanntesten Roman Die Abenteuer des Huckleberry Finn adaptiert. Allerdings stellt er schon titelgebend James bzw. Jim, wie er verkürzt von vor allem Weißen genannt wird, in den Mittelpunkt des Erzählens und stattet seinen Protagonisten mit Bildung und Würde aus. Durch diese genial erdachte Verschiebung führt der Autor die von Sklaverei und Rassismus brutal verderbte Gesellschaft vor. Dass bei aller Dramatik der Geschehnisse immer wieder Momente großer Komik und atemloser Spannung entstehen, zeichnet Everettts Meisterschaft im Schreiben aus. Schon zu Jahresbeginn eines der besten Bücher in 2024! (Jana Kühn) Leseprobe

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Teodor Cerić: Gärten in Zeiten des Krieges

Reiseberichte aus Europa. Herausgegeben von Marco Martella. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Liebeskind 2024, 120 S., € 20,-

Gärten sind seit jeher Orte des Innehaltens und der Regeneration. Opulente Bücher über berühmte repräsentative Gartenanlagen versuchen, die Sehnsucht nach der Schönheit geordneter Natur zu stillen. Ganz zart kommt dagegen ein kleines Buch daher, das zudem das alles andere als beschauliche Wort „Kriege“ im Titel führt, aber eindrücklich Gärten vorstellt, die eher nicht zum Kanon gehören und im Verborgenen liegen. Beschrieben werden sie von einem Erzähler, einem aus Sarajewo geflüchteten Literaturstudenten,  dem sie bei seinem Umherirren durch Europa Halt und manchmal Arbeit geben. Und der sich inspirieren lässt von ihren Besonderheiten und ergründet, wie aus Träumen, mögen sie noch so übertrieben sein, Gärten entstehen. So sucht er den Garten Derek Jarmans direkt neben einem Atomkraftwerk auf oder Samuel Becketts hinter einer mit Scherben bestückten Mauer biologische Gartenwüste oder erforscht die Geschichte eines sogenannten Schmuckeremiten in einem englischen Landschaftspark. In Graz, in einem hinter Mauern versteckten Hof voller Farne, endet seine Odyssee. Er kehrt zurück, um einen eigenen Garten anzulegen, hat dabei aber schon seinen Leserinnen und Lesern ein literarisches Kleinod hinterlassen, das zur gedanklichen Kontemplation einlädt – und zu Überlegungen zur Mitwirkung des Herausgebers Marco Martella. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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Lana Lux: Geordnete Verhältnisse

Hanser 2024, 288 S., € 23,-

Faina ist neu in der Schule – das jüdisch-ukrainische Kind ohne deutsche Sprachkenntnisse, mit leuchtend roten Haaren und seltsamen Pausenbroten hat keinen leichten Start. Philipp sieht in Faina, was er sehen will. Für ihn ist sie wie er: bedürftig, allein und er will ihr bester Freund sein. Obwohl beide kaum unterschiedlicher sein könnten, schweißt sie ihrer beider Außenseiterposition tatsächlich zusammen – doch von Anbeginn in einer Schieflage. Aus Philipps kindlicher Sehnsucht nach Unbedingtheit entwickeln sich über die Jahre krankhafte Besessenheit und ein männlicher Besitzanspruch. Coming-of-Age, migrantische Familienbiografie, Alkoholsucht und Missbrauch – Lana Lux schüttelt ihre Leser*innen heftig durch, um von der zutiefst toxischen Beziehung wechselseitig aus Fainas und Philipps Perspektiven zu erzählen. Sehr gut beobachtet, pointiert und temporeich entwickelt sie einen schier unerträglichen Lesesog, der ebenso entsetzt zum Lachen bringt wie tieftraurig die Luft anhalten lässt. (Jana Kühn) Leseprobe

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Mirrianne Mahn: Issa

Rowohlt 2024, 304 S., € 24,-

Issa ist verwirrt:  Sie ist schwanger, hin- und hergerissen zwischen Kindsvater („sofort heiraten“), ihrer Mutter („abtreiben“) und eigenen Gefühlen und Plänen. Mehr oder weniger freiwillig lässt sie sich darauf ein, aus der deutschen Großstadt zu ihrer Großmutter und Urgroßmutter nach Kamerun zu fliegen, um dort an traditionellen Ritualen teilzunehmen. Das Haus der Omas, ihre Strenge und Rätselhaftigkeit, ihre Liebe und Klugheit sind ihr aus der Kindheit eng vertraut. Sie kann anfangen zu entspannen, ist sie nicht nur dem Zerren ihrer Engsten entronnen, sondern auch dem deutschen Rassismus. Gleichzeitig eckt sie in der unüberschaubar weit verzweigten afrikanischen Großfamilie mit ihrem „Deutschsein“ an und lässt die Rituale wie etwas Äußerliches über sich ergehen.
Raffiniert erweitert die Autorin den Radius von einer persönlichen Erzählung zu einer Jahrhundertgeschichte von Ausbeutung, Kolonialismus und Sexismus, indem sie parallel die Traumata und Selbstbehauptungskämpfe von Issas Vorfahrinnen in pointierten historischen Kapiteln bis in die Gegenwart nachzeichnet und damit ihren Zwiespalt vom Leben im Dazwischen in einen breiten Kontext stellt. Das passiert alles ganz beiläufig. Eine unbedingte Empfehlung. (Stefanie Hetze)

 

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