Lea Ypi: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp 2022, 332 S., € 28,-, TB Mai 2023, € 14,-

(Stand Mai 2023)

Albanien 1989, ein Land, abgeschottet vom Rest der Welt, die letzte Hochburg des „wahren“ Kommunismus. Lea ist zehn Jahre alt und kennt nichts Anderes. Was die Lehrerin in der Schule vermittelt glaubt sie voller Inbrunst, „Onkel“ Enver Hoxha und Stalin liebt sie und die Eltern sowie die Großmutter halten den Überwachungsstaat und ihre eigenen Sorgen so weit als möglich von ihr fern, geben ihr Geborgenheit. Als die Grenzen fallen, bricht auch Leas Welt in sich zusammen. Ehemals absolute Wahrheiten erweisen sich als Lügen, der Kapitalismus zeigt seine hässlichste Fratze, die Mutter, eine Lehrerin, engagiert sich in der demokratischen Partei und geht schließlich im Zuge der Unruhen nach dem sogenannten Lotterieaufstand als Putzfrau nach Italien, der Vater fühlt sich den neuen Verhältnissen nicht gewachsen und Lea muss neben dem gesellschaftlichen Wandel auch die eigene Pubertät verarbeiten.
Unsentimental, anschaulich und mit großer Selbstironie erzählt Ypi, die heute als Professorin für Politische Theorie in London lebt, von ihrer Kindheit in Albanien und ihrer Enttäuschung über den Westen. Eine äußerst interessante Lektüre, die uns ein Land nahebringt, von dessen Geschichte, dessen Verhältnissen wir doch erstaunlich wenig wissen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Karin Harrasser: Surazo

Matthes & Seitz 2022, 270 S., € 26,-

„Surazo“ hätte Hans Ertls letztes Filmprojekt heißen sollen, bevor er sich entschied, keine Filme mehr zu drehen und sich in einem Bauernhof zurückzuziehen. Es waren die sechziger Jahre, ungefähr zehn Jahre, nachdem Leni Riefenstahls ehemaliger Kameramann zusammen mit seiner Frau und seinen drei Töchtern nach Bolivien gezogen war. Seine Lieblingstochter hieß Monika. Mit Anfang Zwanzig begann sie sich für Politik zu interessieren und schnell schloss sie sich den Guerrillakämpfern der Gruppe ELN, von Ernesto Che Guevara gegründet, an. Vermutlich brachte sie 1971 in Hamburg Roberto Quintanilla um, der eine wichtige Rolle bei Che Guevaras Ermordung spielte. Zwei Jahre später wurde sie in einem Feuergefecht mit den bolivianischen Sicherheitskräften getötet.
Es klingt ja wie ein heftiger Roman, ist aber eine wahre Geschichte, die meisterhaft von Karin Harrasser erzählt wird. Auf unkonventionelle Art und Weise geschrieben, bietet dieses Buch einen intensiven, vielschichtigen Blick auf vergangene und zeitgenössische historische Ereignisse. (Giulia Silvestri)

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Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann, Aufbau Verlag 2022, 342 S., € 24,-, TB Nov. 2023, € 15,-

Gaustine, ein rätselhafter Herr, der als Geriater arbeitet, macht in Zürich eine „Klinik für Vergangenheit“ auf. In der eigenartigen Struktur werden demente Patienten aufgenommen. Die Methode besteht in dem Versuch, das Gedächtnis der Patienten zu fördern, indem sie Zeit in Räumlichkeiten der Klinik verbringen, die genau wie ihnen vertraute Räume entsprechend der verschiedenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eingerichtet sind. Die Idee wird sofort begrüßt, die Patienten vermehren sich, das Projekt wird immer ambitionierter…
Ein namenloser, hochsensibler Ich-Erzähler begleitet uns auf eine faszinierende Wanderung durch Städte, Länder und Zeiten und konfrontiert uns mit der Ungewissheit der Zukunft, indem er Satire, Nostalgie, Geschichte verbindet. Eine tiefgehende, tiefbewegende und vielseitige Lektüre, die der Leserin Tränen in die Augen treibt und die sie zwei Seiten später zum Lachen bringt. (Giulia Silvestri) Leseprobe

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Fredrik Sjöberg: Mama ist verrückt und Papa ist betrunken

Ein Essay über den Zufall. Aus dem Schwedischen von Paul Berf, Hanser 2022, 192 S., € 24,-

Ein Bild, ein Dachbodenfund, zwei junge Frauen, Cousinen, der Blick eher traurig als unbeschwert. Wer waren sie? Und wer war der Maler? Frederik Sjöberg macht sich auf die Suche nach den Spuren des heute weitestgehend vergessenen dänischen Malers Anton Dich, Stiefvater eines der Mädchen – und findet Erstaunliches. In plaudernd lässigem Ton führt er uns in die familiären Verwicklungen einer schwedischen Meiereidynastie, zu Modigliani und den Pariser Modernisten, von hier nach Berlin und an die französische Riviera bis zu einem Spekulatius-Originalrezept von Brechts Mutter. Das macht ihm so schnell keiner nach. Eine Empfehlung für Kunstinteressierte und alle, die einfach gute Geschichten mögen. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Esther Kinsky: Rombo

Suhrkamp 2022, 267 S., € 24,-, TB März 2023, € 13,-

(Stand März 2023)

Der Rombo – das ist das Geräusch, welches einem schweren Beben vorangeht, ein Grollen tief aus der Erde kommend, ursprünglich und unvergleichlich.
1976 wurde die Region der Friauler Alpen im Nordosten Italiens von zwei heftigen Erdbeben heimgesucht, viele Orte wurden vollständig zerstört. Esther Kinski hat die Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen gesammelt, die damals zum Großteil noch Kinder waren, und diese in einem ausgewogenen Wechsel mit geologischen und zeithistorischen Erläuterungen sowie Informationen über Flora und Fauna, Legenden und Bräuche der Gegend kombiniert. Die immer kurzen Textstücke der Memoiren folgen locker der Chronologie der Ereignisse, die beschriebenen Episoden kreuzen, überlappen und ergänzen sich.
Das Ergebnis ist eine fesselnde Lektüre, wobei der Ton hier authentisch die Erzählenden widerspiegelt und dort durch die dichten, lyrischen Sätze der Autorin geprägt ist. Ein Sprachkunstwerk ohne ein Wort zu viel, von hypnotischem Rhythmus und kühler Eleganz. (Syme Sigmund) Leseprobe

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Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch

Oetinger 2022, 176 s., € 14,-, ab 13

Ende Juni 1945 im zerbombten Hamburg. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, die Menschen kämpfen vordergründig mit dem Alltag zwischen Trümmern, mit Hunger, mit durch die vielen Einquartierungen engsten Wohnverhältnissen, aber eigentlich mit den neuen Verhältnissen als Besiegte und mit einem kompletten Wertewandel. Boie porträtiert wie in einem Brennglas drei Jugendliche, die sich auf der Straße fern der Erwachsenen begegnen:  im Mittelpunkt Jakob, dessen jüdische Mutter deportiert wurde, der das Ende des Kriegs nicht wahrgenommen hat, aber aus massivem Hunger sein Versteck in einer Ruine verlässt. Sein Gegenpol Hermann, Ex-HJ-Führer, der immer noch der NS-Ideologie anhängt und der zu seinem Ärger seinen beinamputierten Vater überallhin, auch auf die Toilette, tragen muss. Und dann noch Traute, eine Bäckerstochter, die sich nach Schule und Normalität sehnt und ihren Eltern Brot klaut. In ihrem spannenden zeitgeschichtlichen Roman, der für Jakob ein gutes Ende nimmt, erzählt Kirsten Boie in knappen Szenen abwechselnd aus den drei verschiedenen Perspektiven und von ihren so unterschiedlichen Problemen. Sie bewertet sie nicht. Zusätzlich ausgestattet mit einer Fülle von Erklärungen historischer Fakten können jugendliche Leser:innen selbst zu Einschätzungen dieser Zeit kommen und viele Verbindungen zum Heute ziehen. (Stefanie Hetze)

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Jakub Małecki: Saturnin

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Secession Verlag 2022, 272 S., € 25,-

Saturnin, Mitte dreißig, alleinstehend, ehemaliger Gewichtheber und jetzt unscheinbarer Handelsvertreter mit einem unaufgeregten Leben in Warschau, erhält einen Anruf seiner Mutter. Großvater ist verschwunden, der 96-jährige hat ihr Auto genommen. Saturnin fährt in sein Heimatdorf und beginnt mit der Suche.
Nach und nach stellt er sich immer mehr Fragen. Sein Großvater ist ein verschlossener, drahtiger, stets arbeitender Mann. Aber was bedeutet das Foto, auf dem er ausgelassen lachend Trompete spielt? Und wer ist dieser Saturnin, dessen Namen Großvater ihm gegeben hat? Was ist passiert an dem Fluss, wo sie ihn nach langer Suche finden?
Schließlich erzählt der Großvater – zum ersten Mal – vom Krieg, von Angst, Verwundung und Schrecken, und von der Rache, die er nimmt, für die Ermordung seiner Schwester.
Saturnin ist ein Buch über Kriegstraumata und ihrer Auswirkungen bis in die Enkelgeneration hinein, über das Schweigen und die Notwendigkeit des Erzählens, gegen das Vergessen, gegen jeden Krieg.
Ein verstörendes, humanes, wichtiges Buch. (Syme Sigmund)

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Fatma Aydemir: Dschinns

Hanser Verlag 2022, 368 S., € 24,-, TB dtv September 2023, € 13,-

(Stand September 2023)

Der klassische Beginn einer Familientragödie: Der plötzliche Herztod des Vaters, der sich endlich seinen Traum erfüllt hatte, eine Eigentumswohnung in Istanbul, für die er jahrzehntelang in deutschen Fabriken geschuftet hatte, zwingt seine Frau und die weit zerstreut lebenden Töchter und Söhne zum Begräbnis in der Türkei zusammenzukommen. Die Familie hatte sich längst auseinandergelebt. Sehr unterschiedliche Träume, Geheimnisse und Realitäten prallen da bei Geschwistern und Mutter in dieser unpersönlichen Wohnung aufeinander, manche schaffen es auch nicht rechtzeitig, zur Beerdigung nach Istanbul zu reisen. Fatma Aydemir hat jeder ihrer Figuren eine eigene Identität und eine individuelle Stimme gegeben. Wie in einem Kammerspiel prallen da zum Teil unvereinbare Lebensentwürfe aufeinander, auch wenn die Menschen eng verwandt sind. Sie alle aber tragen die Verletzungen und Verwerfungen türkisch-kurdisch-deutscher Historie, aber auch von gender- und identitätspolitischen Debatten in sich und jede:r hat mit dem eigenen Dschinn, den eigenen inneren Dämonen,  zu kämpfen. Das ist ungemein rasant und dicht in einem atemlosen Sound erzählt, als wären wir mitten im Zwischendrin dieser Menschen, die scheinbar zufällig einer Familie angehören in dieser anonymen Wohnung und auf den erbarmungslosen Fernautobahnen Europas.  (Stefanie Hetze)

Leseprobe

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Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern

Meine Familie und ihre Geheimnisse. avant-verlag 2021, 208 S., € 26,-

(Stand März 2022)

Eine Westberliner Kindheit der 70er zwischen der Wohnung im Märkischen Viertel und Sonntagsbesuchen bei den Großeltern in der nach Kiefern duftenden Onkel-Tom-Siedlung in Zehlendorf. Von der Vergangenheit, von der NS-Zeit wird kaum gesprochen. Das übliche Man-hat-ja nichts gewusst. Als Jahre später Bianca Schaalburg die Schlafzimmermöbel ihrer Großeltern erbt, setzen sie eine große Recherche bei ihr in Gang. Mit ihrer faszinierenden Graphic Novel begibt sie auf die Suche, hinter die familiäre Fassade, also all das Verdrängen, Ausreden und Lügen zu schauen. Immer tiefer gräbt sie, entdeckt Verstörendes, was ihren idyllischen Kindheitserinnerungen zuwiderläuft. Hin und her wechselt sie die Zeitebenen, was sie durch Stilmittel wie die Farbgebung, Wechsel der Moden, der Architektur, der Schauplätze, der Alltagssprache, der Lieder hautnah erfahrbar macht. Das Buch ist zudem wunderschön gestaltet, so glänzen die Stolpersteine golden, gibt es einen Anhang mit weiterführenden historischen, biographischen und kulturellen Informationen. Doch das wirklich Besondere ist, dass ihre Spurensuche und Überlegungen Teil des Ganzen sind, dass sie mit diesem Geniestreich einlädt, auch einmal die eigene Familie und die Gegenwart in den Blick zu nehmen. Eine unbedingte Empfehlung für Jugendliche & Erwachsene. (Stefanie Hetze) Blick ins Buch

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Helga Kurzchalia: Haus des Kindes

Friedenauer Presse 2021, 140 S., € 18,-

(Stand Januar 2022)

Im Nachkriegsberlin konkurrierten Ost und West auch um die architektonische Vorherrschaft – Hansaviertel gegen Stalinallee. Dort im Vorzeigebau „Haus des Kindes“ wuchs die Autorin als jüngste Tochter in die DDR eingewanderter Kommunisten auf. Anfangs war das Leben in diesem luxuriösen Vorzeigegebäude mit Fernheizung, hochwertiger Ausstattung besonders privilegiert. Ein offener Kindergarten, in den sie nach Belieben gehen konnte, Trubel und Treiben bei den prominenten Nachbarsfamilien wie der des Stalinalleearchitekten Henselmann oder den Havemanns. Während die Erwachsenen sich mit ihrem Glauben an den sozialistischen Fortschritt wie selbstverständlich in ihrem komfortablen Leben am Strausberger Platz einrichteten, lernt die „Bonzentochter“ die zerbombten Straßen und Wohnungen dahinter kennen, ist auch mit den dort ärmlich lebenden Kindern befreundet, was ihre Wahrnehmung auf die Widersprüche der Erwachsenen und die allmählich bröckelnden Verhältnisse nach dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ schärft. Seismographisch bemerkt das Mädchen aus ihrer unverstellten Perspektive die Risse, die nicht nur am Prachtgebäude, sondern wo sie auch hinschaut, auftauchen. Fein und genau erzählt, sind diese Erinnerungen an die Ideale und Fallstricke der aufstrebenden DDR, ein hochspannendes Dokument Berliner Zeitgeschichte. (Stefanie Hetze) Leseprobe

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