Léonora Miano: Zeit des Schattens

Aus dem Französischen von Ina Pfitzner, w_orten und meer 2020, 256 S., € 14,-
(Stand März 2021)

In einem kleinen Dorf sind eines Nachts zwölf junge Männer verschwunden. Wo sind sie hin? Sind sie tot? Wer ist dafür verantwortlich? Keiner weiß, was genau zu tun ist. Die Mütter der Verschwundenen werden vom Rest des Dorfes isoliert: Es kann um einen Fluch, der mit den Müttern zu tun hat, gehen. Aber nichts macht wirklich Sinn und endlich wird beschlossen, in einem Nachbardorf zu fragen, ob dort etwas über das Verschwinden der Jungen bekannt ist. Langsam kommt die Wahrheit heraus: Sie wurden entführt und an die Küste verschleppt, um als Sklaven verkauft zu werden. In diesem eindringlichen und ergreifenden Roman wird über die Anfänge des transatlantischen Sklavenhandels aus der Perspektive der subsaharischen Bevölkerung erzählt. Miano gibt den Menschen eine Stimme, die diesem Trauma ausgesetzt waren. In einer traumartigen Prosa schildert sie, wie es gewesen sein muss, aus dem Alltag gerissen zu werden und plötzlich Terror, Gewalt und eine unbegreifliche Störung der Realität zu erleben. Eine wichtige, herzergreifende Lektüre! (Giulia Silvestri) Leseprobe

Das bestelle ich!

 

Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Sonnenschein

Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig, Tropen Verlag 2020, 576 S., € 25,-, TB Februar 2022, € 14,-

(Stand Februar 2022)

helgason-60KIlo-U1+Ruecken.inddEin Fjord im Norden Islands, dem Polarmeer zugewandt. Ein kleiner Ort, eine Kirche, ein Gemeindevorsteher und ein paar versprengte Höfe, die meisten eher mit dem Vieh geteilte Katen, unter die Grasnarbe gebaut. Vielleicht 80 Menschen leben hier, trotzen den unwirtlichen Lebensbedingungen der unerbittlichen Natur und den jahrhundertealten Unterdrückungsstrukturen. Doch dann erscheinen Norweger im Fjord und beginnen eine Halle für die Heringsverarbeitung zu bauen. Dass diesem kleinen, hässlichen Fisch, der doch gerade mal als Viehfutter taugt, die Zukunft gehören, er Reichtum bringen soll, können die isländischen Bauern gar nicht glauben. Doch schon mit dem ersten Fang wird klar, dass die alte Zeit plötzlich und doch endgültig der Vergangenheit angehört.
Diesmal hat Helgason keine absurd-schräge Geschichte verfasst, sondern eine veritable Islandsaga, einen historischen Roman über den Einzug der Moderne in eine archaische Welt, angelehnt an die Geschichte des Siglufjördur, von Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1968 der Fischereihafen für Heringe in Island schlechthin. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite und mit vielen Szenen voller Situationskomik und skurrilen Figuren, die den uns bekannten Helgason erkennen lassen, ist dieses Buch vor allem große Literatur und wurde zurecht mit dem Isländischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres 2018 ausgezeichnet.
Als ergänzende Lektüre empfiehlt sich „Heringe“ von Holger Teschke, erschienen 2014 in der Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz, damals übrigens auch eine „Danteperle“. (Syme Sigmund)

Leseprobe

Das bestelle ich!

Ulla Lenze: Der Empfänger

Klett-Cotta 2020, 302 S., € 22,-, TB dtv 2022, € 12,-

(Stand Januar 2022)

Lenze_Ulla_Der_Empfänger_Dante_connection_DanteperleJosef Klein ist 22, als er 1925 mit einer Winterfahrkarte der dritten Klasse nach Amerika auswandert. Sein Bruder musste wegen eines Unfalls in Deutschland bleiben. Klein hat weder einen festen Plan, noch einen übertriebenen Ehrgeiz, er ist vielmehr froh, dem gewalttätigen Vater entronnen zu sein und ein paar Jahre später ist er mit einem unaufgeregten Job in einer Druckerei zufrieden, genießt das Leben und Treiben seines Harlemer Viertels, richtet sich eine eigene Funkstation ein und lässt die Welt der Amateurfunker zu sich in die kleine Wohnung kommen. Aber er kann dem Weltgeschehen nicht gänzlich ausweichen, das New York der 1930 ist ein politisch zutiefst zerrissenes Land. Josef Klein bekommt einen unscheinbaren Auftrag “unter Deutschen” und verfängt sich, zunächst ohne es zu ahnen, in die Spionagetätigkeit des Naziregimes.
Ulla Lenzes historischer Roman beleuchtet ein bislang wenig erschlossenes Kapitel der deutsch-amerikanischen Geschichte. Inspiriert wurde die Autorin durch die wahre Geschichte ihres Großonkels. Spannend zu lesen ist der Roman nicht zuletzt durch die antiheldische Komponente der Figur Kleins. Seine Beweggründe und Handlungen bleiben zuweilen rätselhaft und machen sie damit doch umso glaubwürdiger. Es kostet ihn unglaublich viel Kraft und Mut, seinen für ihn anfänglich harmlosen Fehler zu korrigieren und es wird nur zu deutlich, wie leicht man den Kurs unter manipulativem Druck verlieren kann. (Franziska Kramer)

Leseprobe

Das bestelle ich!

Raffaella Romagnolo: Bella Ciao

Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes 2019, 528 S., € 24,-, Diogenes TB € 13,-
(Destino, Rizzoli 2018, ca. € 17,50)

(Stand März 2021)

Romagnolo Bella Ciao_Danteperle_Dante_Connection Buchhandlung Berlin KreuzbergBorgo di Dentro, eine kleine Stadt des Piemont an der Grenze zu Ligurien. Man schreibt das Jahr 1900, Anita und Giulia sind 19, beste Freundinnen und arbeiten beide seit ihrer Kindheit in der Spinnerei. Giulia ist seit langem mit Pietro verlobt. Als sie diesen zusammen mit Anita überrascht, flieht sie allein über Genua nach New York. Was wie ein konventioneller Liebesroman beginnt, entwickelt sich zu einem packend geschriebenen und bestens recherchierten Panorama von 50 Jahren norditalienischer Geschichte, wobei das Schicksal der daheim gebliebenen dem der Auswanderer gegenübergestellt wird. Streiks, Ausbeutung, die Weltkriege, der Faschismus und die Partisanenkämpfe prägen mit all ihrer Brutalität das Leben von Anita, Pietro und ihrer Familie, während Giulia in Amerika zu Wohlstand gelangt. Raffaella Romagnolo gelingt das Kunststück, historische Fakten so lebendig zu schildern, so berührend und mitreißend, ohne dabei in Kitsch abzugleiten, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann, um am Schluss wie aus einem guten Film daraus emporzutauchen. (Syme Sigmund)

Leseprobe

Das bestelle ich!

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Verlag Galiani Berlin 2018, 592 S., € 25,-, Kiwi TB € 14,-

(Stand März 2021)

DuveMan schreibt das Jahr 1817, die 20-jährige Nette lebt als behütetes Freifräulein inmitten einer großen Familie. Ihre schwache Gesundheit und ihre extreme Kurzsichtigkeit hindern sie nicht daran, ihren äußerst scharfsinnigen und regen Geist anzuwenden. Gedichte schreibt sie und sie interessiert sich für Geologie, hat immer einen Hammer dabei. In ihrer Familie gilt sie als einer Dame unangemessen vorlaut und scharfzüngig. Als sie sich in den bürgerlichen Straube verliebt, der als einziger ihr Genie erkennt, kommt es zum Eklat und zur innerfamiliären Verschwörung. Nette ist die Dichterin Annette von Droste Hülshoff. Karen Duve hat akribisch recherchiert und auf der Basis historischer Fakten einen höchst lebendigen, unterhaltsamen und gleichzeitig äußerst interessanten Roman geschrieben. Selten sind einem historische Persönlichkeiten und Ereignisse, ja das Portrait einer ganzen Epoche – unter anderem die Gebrüder Grimm, die damaligen nationaldeutsch-romantischen Göttinger Studentenkreise oder auch Heinrich Heine – so frisch, so aktuell und gleichzeitig so fundiert präsentiert worden wie hier. (Syme Sigmund)

Leseprobe

Das bestelle ich!

Davide Morosinotto: Mississippi-Bande

Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi, Thienemann 2017, 368 S., € 15,-, ab 10
(Il rinomato catalogo Walker & Dawn, Mondadori 2017, ca. € 15,50)
(Stand März 2021)

Morosinotto_Mississippi-Bande_Danteperle_DanteConnectionIm Jahre 1904 finden vier Kinder in den Sümpfen des Bayou drei Dollar. Ganz schön viel Geld! Als sie dafür heimlich beim Versandhaus Walker & Dawn eine Bestellung aufgeben, ahnen sie nicht, was sich noch alles in der Lieferung befinden wird – oder auch nicht. Mit dem Paket beginnt eine sagenhaft abenteuerliche Reise der Kinder bis nach Chicago. Wie das alles von statten geht, erzählen sie nacheinander mit sehr unterschiedlichem Fokus auf die Geschehnisse: Für den tollkühnen Te Trois ein riesiges Abenteuerspektakel, für den feinsinnigen Eddie eine Tour de Force voller Gefahren, für Julie eine harte Probe und für den stillen Tit eine Offenbarung. Davide Morosinotto geht in die Vollen! Sein Abenteueroman erzählt zugleich eine Kriminal- und Freundschaftsgeschichte, ist historischer Reisebericht und findet mit kritischem Blick, viel Witz und atemloser Spannung einen ganz eigenen Ton für die vier Erzählperspektiven der Kinder – und die aufwendige Gestaltung mit Kartenmaterial, Illustrationen und Fotografien macht das Buch zu einem echten Glücksfall! (Jana Kühn) Leseprobe

Das bestelle ich!

 

John Williams: Augustus

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben, dtv 2016, 480 S., TB 2017, € 12,90
(Stand April 2021)

williams_john_augustus_dante_connection_buchhandlung_danteperleEs beginnt mit einem Brief Cäsars, der seinen Großneffen Gaius Octavius schätzt und fördert. Doch kurz darauf ist der Herrscher einem Attentat zum Opfer gefallen. Was wird nun aus dem jungen, ehrgeizigen Großneffen, der eigentlich der Philosophie und Gelehrsamkeit zuneigt? In fiktiven Briefen, Tagebucheinträgen und Dokumenten zeichnet Williams das Leben und die Persönlichkeit des uns heute als Augustus bekannten Gaius Octavius nach, seinen Weg zur Macht, der ihn als Menschen verändert, seine lange Regierungszeit mit ihren politischen Verschiebungen, schließlich seinen Tod. Es ist großartig, wie Williams umkreist, was und wie es gewesen sein könnte und dabei den verschiedenen Figuren, Freunden, Familienmitgliedern, Zeitgenossen, Gegnern Augustus‘ eine sehr lebendige Stimme verleiht. Sofort gerät man hinein in den Sog einer bewegten Zeit, die der unsrigen so fern liegt und von der doch so viele Verbindungslinien zu uns führen. (Judith Krieg)

Das bestelle ich!

Jean Rhys: Die weite Sargassosee

Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Schöffling 2015, 232 S., € 21,95, dtv TB € 10,90

(Stand März 2021)

32_rhys_sargassoseeJamaica zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Antoinette, Tochter eines Plantagenbesitzers und ehemaligen Sklavenhalters, lebt nach dem Tod des Vaters mit ihrer Mutter allein und abgeschieden auf dem Gut. Ein paar Angestellte sind geblieben, doch der vormalige Reichtum und das Ansehen sind Vergangenheit. Die beiden werden gemieden, angefeindet. Die weißen Inselbewohner belächeln die Armut, die Schwarzen nennen sie “weiße Kakerlaken”. Hässliche Gerüchte und Halbwahrheiten sind im steten Umlauf. Als junge Frau wird Antoinette schließlich in einer Art Hochzeitskauf mit  dem jungen Engländer Mr. Rochester verheiratet. Das frischvermählte Paar zieht auf ein paradiesisches Anwesen am Meer, wo jedoch binnen kürzester Zeit eine Ehehölle entsteht. Missverständnisse, Ängste, Voodoo und Alkohol treiben das Paar nicht nur auseinander, sondern in rasend blinden Hass. Rhys erzählt aus beiden Perspektiven von zwei Menschen, die kaum verschiedener sein könnten und einander schlicht nicht verstehen. Wer Charlotte Brontës “Jane Eyre” gelesen hat, wird die Protagonisten wieder erkennen, denn Jane Rhys gibt der bei Brontë überaus unsymphatisch, lediglich als wahnsinnig beschriebenen jamaikanischen Ehefrau Rochesters eine Stimme, endlich auch ihre Version der Geschichte zu erzählen. Herzzerreißend  – ein wunderbarer moderner Klassiker in neuer Übersetzung! (Jana Kühn)

Leseprobe

Das bestelle ich!